Wie gerade die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte entsteht – ein Essay von Peter Weibel
© Peter Weibel
Die geschlossene Gesellschaft, zu der wir verdammt sind, öffnet unsere Köpfe. Sie lässt uns begreifen: Unsere Systeme sind fragiler, als wir jemals dachten. Gerade entsteht die erste Ferngesellschaft der Menschheitsgeschichte. Die Massenmobilität kommt an ihr Ende. Der Globalisierung geht die Luft aus. Und: Die Telegesellschaft wird Wirklichkeit.
Das Theaterstück der Stunde stammt von Jean-Paul Sartre und wurde 1944 unter dem Titel »Huis clos« (Geschlossene Gesellschaft) uraufgeführt. Drei Menschen befinden sich nach ihrem Tod in der Hölle. Sie haben Ausgangssperre, darin besteht die Folter. Sie sind in einem kleinen Raum zusammen eingeschlossen, den sie nicht verlassen können, und sind ständig den Blicken der anderen ausgesetzt. Die berühmte Botschaft des Stückes lautet demzufolge »Die Hölle sind die anderen.«
Die anderen sind heute die Infizierten. Sie sind die Vorboten der Hölle, der Krankheit, des Todes. Sie sind diejenigen, vor denen wir uns vermeintlich schützen, von denen wir Abstand nehmen müssen.
Heute würde das Drama den Titel »Shutdown« tragen, denn ganz Europa befindet sich im Shutdown. In New York herrscht wegen der Anordnung, zu Hause zu bleiben, »shelter in place«, Bunkerstimmung. Das Wort »wohnhaft« enthüllt in der Corona-Krise seine eigentliche Bedeutung, nämlich, in seiner eigenen Wohnung in Haft zu sein. Infizierte werden zu Internierten und zu Inhaftierten in Isolationshaft. Im eigenen Appartement (im gesonderten Einzelzimmer, ital. appartare »absondern, trennen«) zu bleiben, heißt »à part«, am Rande zu sein, außen zu sein, ausgeschlossen zu sein. Was für ein Paradox, vom öffentlichen und sozialen Leben ausgeschlossen zu sein, indem wir in unseren Wohnungen, in Haus und Hof eingeschlossen werden. Wir leben in geschlossenen Räumen, eingesperrt in einer geschlossenen Gesellschaft – wie nach dem Tod, eben unter Ausgangssperre.
Das System ist fragil
Doch es ist auch die Stunde der Medientheorie. Von William S. Burroughs bis Jean Baudrillard haben Theoretiker bereits vor Jahren die Wirksamkeit der Massenmedien über virologische Metaphern zu fassen versucht. Burroughs behauptet sogar: »Language is a virus from outer space«, also bereits die Sprache, das erste Kommunikationsmedium, sei ein Virus. Baudrillard wurde nicht müde, in zahlreichen Essays über Viralität, Videowelt und Virulenz die Ausbreitung von Information als ansteckend zu charakterisieren und vor diesen viralen Massenmedien zu warnen.
Hätten die Regierenden die Systemtheorien beachtet, wüssten sie, dass ein System umso fragiler wird, je komplexer es ist. Die Chaostheorie weist darauf hin, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann (Edward Lorenz, 1961). Ein bis zwei Infizierte in der Millionenstadt Wuhan lösen eine Pandemie in ganz Europa aus. Minimale Abweichungen von Lebensbedingungen können indirekt zu einer Katastrophe des Systems führen, ja sogar zu einem Kollaps. Das ist genau die Wirkungsweise von Viren, von Computerviren bis Viren der Natur mit ihren systemdestabilisierenden Effekten. Sie attackieren sowohl den genetischen wie den informationellen Code. Weil sie hyperfunktional sind, verbreiten sie sich in den beschleunigten Zirkulationen der globalen Systeme rasant und erzeugen Katastrophen. Das Virus macht – metaphorisch gesprochen und positiv gewendet – die Lücken, die Mängel, die Defekte eines Systems sichtbar. Wie William S. Burroughs schrieb, die Drogennadel sticht in eine Lücke.
Von »Defekten Demokratien« (Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle et al., 2003, 2006) bis zu defekten Verkehrs- und Gesundheitssystemen reichen die Lücken, herrschen Verspätungen, Verfehlungen, Versagen. Das Gesundheitssystem wurde buchstäblich zu Tode gespart – zu gering die Zahl an Personal und Betten, zu niedrig die Gehälter.
Bescheidene 23 000 Intensivbetten stehen für 80 Millionen Deutsche zur Verfügung. Nun produziert dieses System in der Tat Tote. Das Virus muss so rasch und brutal wie möglich eingedämmt werden, nicht nur um der Kranken willen, sondern auch, um das Versagen ökonomischer und politischer Regime zu vertuschen, das trotz allen Signalen über Jahrzehnte hinweg verschleiert werden konnte, von den wiederkehrenden Finanz- und Migrationskrisen bis zur Pflege- und Klimakrise. Das ist das gefährliche Potential des Virus. Darin liegt seine Systemsubversion, die zu einem kompletten Shutdown des Systems führen kann.
Die Medien sind auch viral
In den sozialen Netzwerken macht man gerade die erste Infodemie aus, denn nun trifft ein echtes Virus auf die Viralität der Medien. Die Medien verstärken die Effekte des realen Virus exponentiell, denn sie bilden einen Echoraum, einen Resonanzraum, der die Wirkung des Virus vervielfacht.
Das Virus verbreitet sich blitzschnell, doch ebenso rasend verbreiten sich die Meldungen über das Virus. Mit dem realen exponentiellen Wachstum des Virus korrespondiert das virtuelle exponentielle Wachstum der Effekte des Virus in den Massenmedien. Täglich wird jeder einzelne Infizierte oder Tote hochgerechnet. Uns erreichen Meldungen, dass CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz oder US-Schauspieler Tom Hanks und Ehefrau infiziert seien.
Würden wir bei jeder Grippeerkrankung ebenso verfahren, wären die Kommunikations-Highways nicht breit genug, um die Informationen über stündliche Erkrankungs- und Todesfälle zu verbreiten. Würden wir Grippefälle so häufig melden wie die Corona-Fälle, herrschte eine Panik, die in ihrem Ausmaß so gefährlich sein könnte wie das Virus selbst. Die Pandemie wird medial zur Panik verstärkt. Wenn die Zahlen stimmen, so gibt es jährlich global 500 Millionen an Grippe erkrankte Menschen. Davon sterben angeblich jedes Jahr zwischen 290 000 und 650 000 Menschen an den Folgen einer Grippe. Zum Vergleich: Durch das COVID-19 verursachende Virus gibt es über 22 000 Tote (heutiger Stand, 26. März 2020) weltweit.
Die weitere Entwicklung der Pandemie kann nicht mit definitiver Sicherheit vorhergesagt werden. Ob die Situation bereits schlimm genug ist, ob sie noch schlimmer wird oder ob sie weniger schlimm sein wird, wissen wir nicht. Daher können wir uns im Moment auch mit der Zeit nach der Krise beschäftigen und die tieferen Ursachen, Symptome und Probleme dieser Corona-Krise befragen.
Exzessive, flächen- und zeitdeckende Medienberichte können medial einen Sturm über Europa entfesseln. Ganze Städte, Nationen, Kontinente sind dann infiziert, werden interniert, zwangsisoliert und inhaftiert. Der Ausnahmezustand, wie eine Ausgangssperre, wird zum Normalzustand, da die Bevölkerung durch Angst in Schach bzw. gefangen gehalten wird.
In einem weiteren Drama Sartres, »Die Fliegen« (Les Mouches, 1943), beendet Oreste das Schreckensregime des Mörders Egisthe, der mit dem Mittel der Angsterzeugung herrschte, die durch die Fliegenplage symbolisiert wird. Oreste beseitigt die Fliegenplage und befreit somit die Menschen von der Angst, denn Macht basiert darauf, dass die Menschen nicht wissen, dass sie eigentlich frei sind. Daher sind Phobokratie und Plagen seit ägyptischen Tagen ein wirksames Herrschaftsinstrument.
Nun ist aber das Virus aufgetaucht, das Monster, der Leviathan der Nahgesellschaft. Als Leviathan bezeichnet Hobbes in seinem Buch »Leviathan« (1651), das die moderne Staatstheorie begründet, ein gigantisches See-Ungeheuer, das den Menschen Angst einflößt und einflößen soll. Auf diesem Floß der Angst treibt der moderne Staat noch immer. Herrschaft durch Angst, Phobokratie, gilt heute wie damals. Das Virus ist ein klassischer Fall der Nahgesellschaft, denn wie ein Briefträger überträgt er seine Botschaft durch den Körper. Das Virus braucht einen Wirt, den Körper, und diffundiert von Körper zu Körper. Nun ist es aber so, dass sich in der motorisierten globalen Massengesellschaft die Körper extrem von einem Ort zum andern bewegen, das heißt von Körper zu Körper. Die maschinell beschleunigte Motorik der Körper auf Reisen bedeutet eine Explosion der Nahgesellschaft in globalem Ausmaß. In der globalen Nahgesellschaft reisen nicht Botschaften, sondern Boten, das heißt Körper, die das Virus exponentiell übertragen. Die maschinenbasierte Gesellschaft ist immer noch eine Nahgesellschaft, in der eine Infektionskette sich blitzschnell global ausbreitet. Deswegen wird das Virus ziemlich schnell von China nach Italien, von Italien nach Zentraleuropa usw. übertragen. Weil eben so viele Körper im Zeitalter der materiellen Massenmobilität so viel reisen, kann sich das Virus weltweit ausdehnen.
Die Massenmobilität ist vorbei
In meinen Schriften der 1980er-Jahre – »Die Beschleunigung der Bilder« (1987) und »Vom Verschwinden der Ferne« (1990) – habe ich die These aufgestellt, dass das 19. Jahrhundert nicht nur die industrielle Revolution hervorgebracht hat, sondern auch die eben so entscheidende Telekommunikation. Die industrielle Revolution war maschinenbasiert und auf Radtechnologie aufgebaut. Rollende Räder (Züge, Autos, Fahrräder, Flugzeuge) haben eine beschleunigte Mobilität der Körper und Güter hervorgebracht. Diese massive materielle Mobilität verführte die Menschheit zu fatalen Strategien.
Die Autobahnen werden offensichtlich zu Sackgassen, zu Strecken des Stillstands. Der Massenverkehr und -tourismus mit Zug, Flugzeug und Auto haben zu Verwüstungen der Landschaften und Verseuchungen der Meere geführt. Man hat die etymologische Verwandtschaft der gigantischen Kreuzfahrtschiffe, der schwimmenden Städte, der Cruise Liner, mit den Marschflugkörpern, genannt Cruise Missiles, übersehen.
Diese Schiffe sind Raketen. Die Urlaubsindustrie ist nichts anderes als ein Krieg gegen die Natur. Nun zwingt uns die Natur in Form eines Virus, diesen Krieg zu beenden, die exzessive Massenmobilität zu stoppen, zumindest vorübergehend. Flugzeuge bleiben am Boden, Schiffe im Hafen, Hotels und Geschäfte geschlossen, die Menschen zu Hause eingeschlossen.
Denn nun wird gesagt: STOP – bitte Abstand nehmen, STOP – bitte Nähe vermeiden, STOP – haltet Distanzen ein. Nähe wird verboten, Ferne eingefordert. Ist das nicht das Ende der Nahgesellschaft? Der versprochene, grenzenlose Raum der körperlichen Massenmobilität der Nahgesellschaft wird plötzlich gestoppt und die Grenze wird so eng wie möglich gezogen. Die Grenze beginnt nun im Haus oder in der Wohnung. Die Menschen dürfen sich als Körper nicht mehr bewegen und nicht mehr begegnen. Sie befinden sich in Wohnhaft. Das ist die Verkündigung des Endes der analogen Nahgesellschaft. Das meine ich, wenn ich sage, die analoge Globalisierung ist am Ende, denn sie hat zu einem Shutdown globalen Ausmaßes geführt. Alles wird geschlossen. Statt »Rasendem Stillstand« (Paul Virilio, »L’Inertie polaire«, 1990; dt. 1992) Stillstand der Raserei. Die Körper werden zur Immobilität gezwungen. Die Boten dürfen sich in der analogen Welt nicht mehr bewegen, sie müssen zu Hause bleiben. In der analogen Welt gibt es jetzt global eine Bewegungssperre der Körper, eine Gehsperre, eine Ausgangssperre, denn in der Nahgesellschaft brauchen wir den Körper des Boten für die Kommunikation. Es gäbe also im Moment keine Kommunikation. Doch die Kommunikation lebt, denn die Botschaften bewegen sich doch – dank der körperlosen Fernkommunikation. Deswegen leben wir im Augenblick mehr in der Ferngesellschaft, die auf digitaler Technologie beruht, als in der Nahgesellschaft.
Da Körper im Zeitalter der Corona-Krise voneinander getrennt bleiben müssen, um Ansteckung zu vermeiden, gäbe es im Moment keine Kommunikation und keine Gemeinschaft. Nun können endlich die digitalen Technologien der Ferngesellschaft auftreten, die wir seit Jahrzehnten benutzen, um die Reste der Nahgesellschaft zu retten: Man sieht sich noch, man hört sich noch, man liest sich noch, zumindest per Internet, per Skype, per E-Mail, per Mobiltelefon etc. Man sieht fern per Fernseher, man hört fern per Telefon, etc. Ohne Ferntechnologien gäbe es überhaupt keine Nähe mehr. Die sozialen Bedürfnisse nach Nähe bleiben partiell erhalten, weil wir eben im Zeitalter der digitalen Technologien leben und deswegen noch kommunizieren können. Wir treten nun endgültig in die digitale Welt ein, in eine neue Form der Nähe, in die symbolische, zeichen- und nicht körperbasierte Nähe. Würden wir nur in der Nahgesellschaft leben, gäbe es keine Kontakte und keine Kommunikation zwischen Menschen mehr. Also beginnt nun das Zeitalter der Ferngesellschaft, die auf digitalen Technologien der Fernkommunikation basiert. Das wird klarerweise die Gesellschaft langfristig radikal verändern.
Neben der immateriellen Mobilität von Zeichen, diesem Online-Universum, hat sich eine gigantisch materielle Mobilität von Körpern entwickelt. Diese Massenmobilität, von der Tourismus- bis zur Freizeitindustrie, sind für mich einer der Gründe der Klimakrise und auch der Corona-Krise. Man hat die Sehnsucht der Menschen nach Nähe ausgenützt und durch eine Kommerzialisierung und Industrialisierung eine lokale Massengesellschaft erzeugt.
Die Masse ist ein Produkt der Nahgesellschaft. Deswegen werden wir die bisherige Massengesellschaft mit ihren Auswüchsen, welche den Planeten Erde unbewohnbar zu machen droht, in eine neue Form von Gesellschaft, einer Vielzahl der Einzelnen, transformieren müssen. Das Virus zwingt uns dazu, die Massenmobilität zu beenden. Das ist das große soziale Experiment, das wir gerade erleben. Wir werden unsere Wirtschaftslogik und unsere Kultur neu überdenken müssen. Ein kulturelles Beispiel: Früher ging man ins Kino, saß in einer lokalen Masse, die instrumentalisiert wurde zur Quote. Dann saßen viele, viele Menschen vor den Fernsehapparaten, eine nicht lokale Masse, und heute kann jeder Einzelne per Netflix zuhause oder unterwegs Filme sehen und aus den Millionen von YouTube-Musikstücken und -Filmen auswählen oder auch gespeicherte Texte online abrufen. Wir leben also zunehmend in einem Online-Universum, in dem der Zugang personalisiert ist und nicht mehr an eine Masse gebunden ist. Filme konnten wir früher im Kinosaal nur unter dem Preis der Massenbildung und der Quote sehen. In einem Provinzkino konnten wir nur die Filme sehen, die einen massenhaften Erfolg versprachen. Also wir konnten wenige Kunstfilme sehen. Heute kann jeder auf dem Smartphone sich sein Programm selbst zusammenstellen, völlig unabhängig von der Masse.
Die Nahgesellschaft kommt an ihr Ende
Die Nahgesellschaft ist eine Kommunikationsform, bei der die Botschaft zur Übertragung einen Boten braucht, genauer gesagt, den Körper eines Boten. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte Fernkommunikation, das heißt die Übermittlung von Botschaften über eine räumliche Distanz, nur mit einem Botenkörper verwirklicht werden, sei es ein Mensch, eine Taube, ein Pferd, eine Kutsche, ein Fahrrad, ein Auto, ein Flugzeug etc. Auch auf den Pferden und an den Maschinen sitzen ja Menschenkörper.
Mit der Erfindung der Telegrafie begann die Separation von Bote und Botschaft. Erstmals konnten Botschaften ohne Boten, das heißt ohne Körper, übermittelt werden. Die Zeichen, die Signale, reisten als Morsecode alleine. Sender und Empfänger konnten kommunizieren, ohne ihre Körper zu bewegen. Die Boten blieben an ihrem Ort und die Botschaften reisten ohne sie.
Im 20. Jahrhundert haben wir eine gigantische Industrie, von Telefon bis Television, erfunden, um die Ferne (griech. -tele) körperlos zu überwinden. Töne, Texte, Bilder werden in Daten (Zeichen, Symbole, Signale, Zahlen) verwandelt und drahtlos per elektromagnetischer Wellen übermittelt. Wir leben seit 100 Jahren in einer Gesellschaft, in der Menschen ihre Körper nicht bewegen müssen, sich also nicht nahe kommen, aber trotzdem miteinander kommunizieren können. Seit dem Personal-Computer (ab 1980) und dem Internet (ab 1990) ist diese Kommunikationsform in weiten Teilen der Welt dominierend geworden. Im 21. Jahrhundert leben wir einerseits noch in der Nahgesellschaft, sogar mehr denn je, weil die motorisierte Massenmobilität sich intensiviert hat. Aber andererseits leben wir auch mehr denn je in einer Ferngesellschaft, die auf der körper- und botenlosen ferntechnologischen Kommunikation aufgebaut ist. Wir leben im Nahraum der Nahversorgung und des Nahverkehrs, aber gleichzeitig im Fernraum des Fernsehens, Fernhörens, Fernlesens etc. Zur lokalen, ortsgebundenen Masse der Nahgesellschaft addiert sich eine nicht lokale Massen, die verteilt, dezentral vor ihren Sende- und Empfängerstationen sitzen.
Für die postindustrielle medienbasierte Revolution, die für das 21. Jahrhundert entscheidend ist, gilt die Trennung von Bote und Botschaft. Bis zur Erfindung von Telegrafie, Telefax und Telefon konnte eine Botschaft nur mithilfe eines Boten, genauer gesagt mit dem Körper eines Boten, gebracht und übermittelt werden. Sei es Pheidippides, der athenische Marathonläufer von 490 v. Chr., sei es eine Taube, ein Pferd, ein Reiter, eine Kutsche, ein Flugzeug, eine Eisenbahn, immer bedurfte es eines Boten, der eine Botschaft überbrachte. Mit dem Telegramm und dem Morsecode konnten erstmals Zeichenketten, Botschaften körperlos übertragen werden.
Der Körper des Senders blieb an seinen Ort, die Botschaft wurde per Kabel übermittelt, und der Empfänger am anderen Ort konnte die Information verarbeiten. Diese kabelhafte Telekommunikation (Telegrafie, Telefonie, Telefax) wurde, nach der Entdeckung der elektromagnetischen Wellen, im 20. Jahrhundert zu einer drahtlosen Kommunikation (Radio, Television) umgebaut, zu einer den Globus umhüllenden Infosphäre.
In dem Augenblick, in dem Botschaften alleine reisen konnten, verwandelte sich eine körperbasierte Nahgesellschaft in eine Ferngesellschaft. Jede Technologie, ob Auto oder Telefon, dient der Überwindung von Ferne. Wir leben seit mehr als hundert Jahren in einer telekommunikativen Ferngesellschaft, aber die Welt hat diesen Wechsel noch nicht vollzogen.
Atavistische Stammesrituale der Nahgesellschaft existieren parallel zur virtuellen Ferngesellschaft. Materielle Mobilität der Körper und Maschinen existiert parallel zur immateriellen Mobilität der Signale und Medien. Dadurch sieht unsere Gesellschaft so aus wie die Automobile der Jahrhundertwende, deren Design Pferdefuhrwerken glich. Die Designer haben am Anfang nicht begriffen, dass die Autos von selbst fahren, und haben noch immer an den Körper des Boten, an das Pferd, gedacht und folglich das Auto ähnlich einer Kutsche gebaut.
Vergleichbares geschieht heute und liefert die Grundlagen der Pandemie, der Ansteckungsgefahr aller, wie das griechische pan- bereits sagt. Die Menschen, lokale Kollektive, Horden und Herden weiden an Stränden, auf Wiesen und Rasen in Stadien, um einem Rockkonzert oder Fußballspiel beizuwohnen. Doch die Spiele und Konzerte dienen im Grunde nicht dem lokalen Massenpublikum, sondern den nicht lokalen Massen, dem virtuellen Publikum, das dezentralisiert weltweit vor TV-Geräten und Tablets sitzt. Das Publikum der Nahgesellschaft im Stadion dient als pittoreske Kulisse für die nicht lokale, virtuelle Ferngesellschaft zu Hause.
Gäste diskutieren in Talkshows mit der Moderatorin eigentlich für das virtuelle TV-Publikum, doch benötigen sie als Staffage eine Gruppe lokaler Claqueure. Diese Agglutinationen, Verklumpungen von Körpern in der lokalen Massengesellschaft, von der Stadionunterhaltung bis zu den Strandurlauben, sind obsolete Rituale der Nahgesellschaft und mögliche Quellen der Pandemie. Deswegen spielen wir jüngst vor leeren Konzertsälen und in leeren Stadien. Von Fußballspielen bis Rockkonzerten wird nun endlich das lokale Massenpublikum entfernt, das ohnehin schon lange überflüssig war. Das Geld verdienen ja die Musik- und die Sportindustrie mit dem virtuellen, nicht lokalen Massenpublikum.
Es scheint nun, dass die gigantischen Stadien und Opernhäuser die Pharaonengräber der Zukunft sind. Übersteigerte bizarre Architektur-Signaturen, bereits geschaffen im Bewusstsein des Todes der Unterhaltungsformen der Nahgesellschaft, werden sich in Kürze als überflüssig erweisen. Wenn sie denn ohne Publikum bleiben, wenn es nur noch Geisterspiele in Stadien und Konzerthäusern gibt, wird man sich fragen, warum man eigentlich solche gigantischen leeren Spielstätten benötigt.
Wir sind endgültig in die digitale Welt umgezogen. Als ich in den 90er-Jahren für virtuelle Welten und Online-Kommunikation votierte, stand ich auf verlorenem Posten. Meine erste Ausstellung im ZKM 1999 hieß »net_condition und« trug den Untertitel »Kunst/Politik im Online-Universum«. Ich war damals ein einsamer Rufer in der Wüste des Realen. Heute ist diese Wüste überbevölkert. Die Kultureinrichtungen überschlagen und überbieten sich mit digitalen Initiativen. Bund und Länder, die bisher wenig, kaum oder gar keine Mittel für die Digitalisierung der Museen bereitstellten und diesbezügliche Gesuche abwiesen, bieten nun von sich aus finanzielle Unterstützungen für digitale Extensionen an. Aufgrund der Corona-Krise ist plötzlich notwendig und wünschenswert geworden, was bisher unmöglich schien. Der Auszug der Kultur ins Netz und auf Online-Plattformen ist nun unausweichlich und irreversibel. Die Kultur und auch die Gesellschaft sind nun endgültig in der digitalen Welt angekommen. Warum?
Die neue Zeit hat begonnen
Man kann also behaupten, dass eine Lehre des Virus darin besteht, uns mit Gewalt und Macht in das digitale Zeitalter zu schieben. Keine Produktions- und keine Rezeptionsformen werden davon unberührt bleiben. Der konstante Aufruf »Nicht näher kommen!« ziert auf prognostische Weise das Eingangsportal zur Ferngesellschaft.
In den 1980er-Jahren haben wir mit dem Personal Computer und in den 1990er-Jahren mit dem Internet bereits jene Technologien entwickelt, die das Leben der nonlokalen Massen in virtuellen Welten ermöglichen werden. Die gesamten Online-Dienstleistungen, die Bestellung von Waren bis zu Gesundheitskontrollen, haben bereits Wege aufgezeigt, wie der Körperkontakt vermieden werden kann.
Man muss nicht mehr ins Kino gehen, um Filme zu sehen, sondern kann sie zu Hause streamen. Man geht nicht mehr in Buchhandlungen, um Bücher zu erwerben, sondern lässt sie sich per Post liefern. Es gibt E-Commerce und E-Banking – alles virtuelle, nonlokale, körperlose Kommunikation und Transaktion.
Aus dem lokal gebundenen Massenpublikum im realen physischen Raum wird im nonlokalen, dezentralen, verteilten virtuellen Raum der Teletechnologie eine Versammlung von Individuen, aus der Agglutination wird eine Assoziation. Aus der naturschädigenden und damit auch menschenschädigenden exzessiven materiellen Mobilität wird nach der Trennung von Bote und Botschaft eine immaterielle virtuelle Mobilität. Der Verkehrsfluss wird zum Zeichenfluss. Wir fahren, fahren, fahren nicht nur auf der Autobahn, sondern senden Signale auf dem elektronischen Highway. Die Kultur wird zu einem Online-Paradies. Das Virus zwingt durch seine Viralität die Kultur zu einer Migration in virtuelle Welten – ein wichtiger Schritt für die Steigerung der Abstraktions- und Symbolisierungskraft des Menschen, das heißt für die Evolution.
Im Augenblick werden wir durch das Corona-Virus, das Monster der Nahgesellschaft, gezwungen, die schon lange vorhandenen digitalen Technologien zu nutzen, den Widerstand gegen sie, vor allem im Kulturbetrieb, aufzugeben, und entschieden radikaler und schneller als je zuvor gedacht gezwungen, unsere analoge Gesellschaft in eine digitale auszubauen. Insofern erscheint die Ferngesellschaft am Horizont als eine aufgehenden Sonne und die Nahgesellschaft als eine niedergehende Sonne. Welche grundlegenden Folgen das für viele Industriezweige der Massenmobilität, von der Autoindustrie, der Verkehrs- und Transportindustrie, dem Massenkonsum, der Massentierhaltung bis zum Massentourismus und der Freizeitindustrie, langfristig haben wird, ist die zentrale Frage. Diese Folgen zu meistern und menschlich zu gestalten bzw. zu lösen, werden die kommenden Aufgaben nach der Corona-Krise sein. Die Lösung der Corona-Krise ist die eine Aufgabe, aber die Lösung der Probleme nach ihr und die Lösung der Probleme, die zu ihr führten, ist die zweite, noch viel größere Aufgabe.
Alle bisher angesichts der Corona-Krise vorgebrachten Argumente und Perspektiven der Kapitalismuskritik, der Disziplinargesellschaft, der Biopolitik etc. haben ihre Berechtigung, aber sie verfehlen die eigentliche strukturelle soziale Transformation, die uns unvermeidlich bevorsteht. Das Corona-Virus ist der unheimliche Bote, der den Wandel von der (körper- und maschinenbasierten analogen globalen) Nahgesellschaft in eine (signal- und medienbasierte digitale globale) Ferngesellschaft verkündet.
Mit der weltweiten Verbreitung des Corona-Virus erleben wir, wie dem Globalisierungsballon die Luft ausgeht, denn alle Räder stehen still – nicht etwa wegen des starken Arms der Arbeiter, wie Georg Herwegh 1863 in einer Hymne noch behauptete, sondern ein Virus bringt alles zum Stehen und Erliegen. Dieses Virus zwingt uns, den Krieg des Menschen gegen die Natur einzustellen, zumindest erzwingt es einen Waffenstillstand.
In dieser Zäsur haben wir die Chance für grundlegende Reformen unserer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systeme. Was bisher unmöglich schien, ist nun unvermeidlich. Unsere Welt wird eine andere sein.
Der Text erschien am 20. März 2020 in der »Neuen Züricher Zeitung«.