Ein Kompass in unübersichtlicher Zeit. Ein poetisches Plädoyer für die Verbindung von Ost und West.

Uli Rothfuss im kunstportal-bw | Mathias Enard: Kompass

Ein Kompass in unübersichtlicher Zeit. Ein poetisches Plädoyer für die Verbindung von Ost und West.

Kompass, Roman von Mathias Enard

Ja, ich habe mich vorsichtig an dieses Buch gewagt. Der Autor, hoch gelobt und mit manchen renommierten Preisen ausgezeichnet, schien dem Thema gewachsen, schon aufgrund seiner Biografie. Er hat im Nahen Osten gelebt, ist Orientalist, er hat sich mit Veröffentlichungen zum Thema hervorgetan. Dennoch, eine Skepsis bleibt, zumal gerade der Osten und das Verhältnis zu anderen Gesellschaften im Moment wie kaum ein anderes explosiv ist; gespannt – auch wie er mit den veränderten Bedingungen umgeht, die den Osten in den letzten Jahrzehnten und Jahren prägen.

Fazit: Ein grandioses Buch. Zu dem Schluss komme ich ohne Einschränkung. Und der Titel ist mit Bedacht gewählt: Kompass, das Buch ist wahrhaft ein Kompass in unübersichtlicher Zeit. Bei allen auseinander- und wieder zusammenlaufenden Erzählsträngen, bei allen Wirrnissen durch die Jahrhunderte zwischen Ost und West – dieser Autor, Mathias Enard, verfügt über ein enzyklopädisches Wissen, das er uns fein, spannend, hinreißend sinnlich erzählt. Ich bin von diesem Roman, der viel mehr ist als eine erzählte Geschichte, begeistert!

Mathias Enard erzählt in Erinnerungen des Wiener Musikwissenschaftlers Franz Ritter, der nach einer ernsten medizinischen Diagnose eine schlaflose Nacht verbringt, er erinnert und verspinnt erlebte Geschichten, die sich allesamt um die Bindelinien zwischen dem Orient und dem Okzident drehen – und verwebt dies mit einer zarten, beinah unerfüllten Liebesgeschichte, die dann schließlich doch in eine Liebesvereinigung führt, die so zart, so sinnlich erzählt ist wie ich eine Liebesszene wahrlich noch nie vorher gelesen habe; zärtlich, vorsichtig, und doch voller Emotion.

Aber diese Liebesstory ist nicht Selbstzweck, an ihr kulminiert der Autor seine Annäherungen an die Ost-West-Bindungen, denn Sarah, die ferne und immer näher werdende Geliebte, ist Orientwissenschaftlerin, und über sie, mit ihr, erlebt auch Protagonist Ritter Annäherungen – an orientalische Musik und Musiktradition, begeistert sich für arabische Lebensart, erlebt dies zusammen mit Sarah und verbringt z.B. eine zarte Nacht – ohne sexuelle Annäherung – mit ihr, am Rand der arabischen Stadt, unter einer gemeinsamen Decke, einfach die Nähe, die Wärme zu ihrem Körper, erlebend. Dieser Autor verfügt wunderbar über die ganze Palette erzählerischer Nuancen – am liebsten möchte man solcherart Szenerien wieder und wieder lesen, eintauchen in diese Herzklopfen machenden emotionellen Welten.

Ja, und dann lernt man, als Leser, immens: Franz Ritter erlebt im Nachdenken seine Forschungsreisen auf Musikspuren nah Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra, nach, oft im Zusammenhang mit Sarah – und lässt uns sehr anschaulich teilhaben an der Begeisterung für den Osten (ja, damals noch ein sich etwas anders präsentierender Osten, noch ohne die Gräuel des IS, noch ein Ort, an dem auch westliche Orientforscher sicher und ernsthaft arbeiten können), und gibt geradezu eine Einführung in die Basics der Beeinflussung der Kulturen im beiderseitigen Gewinn. Die Beiträge des Orients zur Kultur, zur Identität, zur Entwicklung des Westens, man denke an die Naturwissenschaften, aber auch der Musik, der Literatur, sind so immens, wie man es sich kaum vorstellen kann, taucht man nur einmal in diese Themengebiete ein – man denke nur an die Goethe-Hafis-„Zwillingsverbindung“, wie es der große Goethe freimütig benannte, nachdem er in persönlicher Krise die gerade erstmals übersetzte Hafis-Poesie entdeckte – und in der Folge seinen großartigen, umfangreichsten „West-östlichen Divan“, den an dem Vorbild orientierten Gedichtzyklus, schrieb.

Ein poetisches Plädoyer für die Verbindung von Orient und Okzident, schrieb die FAZ – und das ist es: die Aufforderung, wegzukommen vom Schubladendenken, gar momentan vom Denken in Kategorien wie Flüchtlingsströmen, Diktatorregimen, an grausamste Islamistenschlächter; nein, der Grund des Orient ist Kultur, ist menschliche Offenheit, Gastfreundschaft, ist Austausch am Ursprung wie immer am Brennpunkt der Zivilisationen. Das, ja, sollte heute verstärkt werden, nicht die Haudraufpolitik, bei der mit Drohnenangriffen und Bombenhageln auf Provokation reagiert wird – die alles nur schlimmer macht. Man muss halt, und das gilt für jedweden Lebensbereich, Dumm- und Tumbheit nicht mit Gleichem beantworten. Aber, wir sehen, vor allem in der Politik, in der großen zumal: genau das geschieht. Hier kann dieses äußerst differenzierte, erzählerisch sehr eingängige Buch, gegensteuern. Und solcherart Kulturleistungen, da bin ich mir sicher, werden es auch auf Dauer. Goethes Divan wirkt direkt ins Heute hinein, das sehen wir; die Eskapaden der damals Regierenden – nicht mal ihre Namen kennen wir mehr.

Ein Buch, das Humanität propagiert, ohne zu beschönigen oder gar auszublenden, dass es Grausamkeiten zu bekämpfen gilt; das intelligente, kulturverbindende Methoden anmahnt, das Mitmenschlichkeit ganz vorne anstellt, ohne die eine Zukunft eigentlich nicht vorstellbar ist. Und das erzählt dieser Autor nicht in einer belehrenden Art und Weise, sondern spannend, Wissen vermittelnd, in den Spielarten aller zur Verfügung stehenden erzählerischen Mittel.

Nochmals, großartig. Leseempfehlung ohne Einschränkung!

Mathias Enard: Kompass. Roman, 432 S., Tb., Piper Verlag, München 2018. 14 €.