Buchtipps von Uli Rothfuss im kunstportal-bw
Aus einer verzweigten Familiengeschichte komponiert der slowenische Autor Goran Vojnovic einen vielschichtigen Roman, der einen nur staunen lassen kann. Er bringt Sujets in einer Selbstverständlichkeit zusammen, die den Leser – bei allen Vor- und Rückblenden, Perspektivwechseln und dazu noch irritierenden Zeitläuften auf dem Balkan – an der Hand halten, sodass er sich in dem Gewirr balkanischer Befindlichkeiten nicht verliert. Schon allein das ist großartig.
Am großartigsten ist der Roman aber im Detail: für mich gegen Ende, wenn er die letzten Jahre, Monate des Zusammenseins der alten Protagonisten Aleksandar und Jana beschreibt, wie sie langsam im Vergessen der Demenz versinkt, er, schuldbewusst, hilfloser Beobachter ist, und der Autor dies in einer Eindringlichkeit beschreibt, die den Leser atemlos weiterlesen lässt, ihm aber zugleich ein Gefühl der Ausweglosigkeit, der Trost- und Hoffnungslosigkeit gibt, und das durch Details, die wir alle, wissen wir doch um diese Alterskrankheit unserer Zeit, irgendwoher kennen, aber nie in diesem Zusammenkommen erleben; und der Autor lässt sie uns hautnah miterleben, eben nicht in der oberflächlichen Beschreibung, sondern im direkten Kontakt, im direkten Miterleben; ja, das kann Schreiben, Lesen, leisten.
Ist aber nur einer der vielen Aspekte dieses Romans. Vieles spielt hinein: der Vielvölkerstaat Jugoslawien, aber nicht in den großen Linien, Konflikten, sondern diese in das Kleine, Familiäre hinein gespiegelt: die scheinbar oberflächlichen, im Grunde aber tiefgreifenden Auseinandersetzungen, gekleidet in vordergründige, derbe Witze und Streitereien, zwischen dem Slowenen Dane und dessen bosnischem Schwager Safet – wo Welten aufeinanderprallen, wo gegenseitiges Verständnis ausgeschlossen wird, nur noch oberflächlich kaschiert durch die rauhen Mengen an Slivowicz, die sie in sich gießen; während die Frauen sich über sie aufregen oder entnervt abwenden. Überhaupt, das Verhältnis zwischen Mann und Frau, zwischen Sohn und Mutter, spielt eine Rolle, oder soll man eher sagen, das Unverständnis, die Unmöglichkeit zur Konversation, selbst über einfachste Dinge, die dann die kleinen und größeren Katastrophen heraufbeschwören.
Grandiose Orte werden heraufbeschworen, Ljubljana, die istrische Küste, immer wieder Anklänge an die jüngere Geschichte Jugoslawiens, die Unmöglichkeit des dauerhaften Zusammenlebens der Völker unter dem Druck des Marschall Tito, den Humor, Witz, Galgenhumor, mit dem die Menschen das nahmen, korrupt, korrumpierbar, mit viel Schnaps und Trickserei, dann der Zerfall des Reiches, die frühe Abspaltung Sloweniens, die Oberhand der Nationalisten, der Krieg in Bosnien, die Entzweiung von Familien, das nicht mehr Redenkönnen zwischen einstigen Freunden, Partnern, Eheleuten. Das alles erzählt der Autor ohne Pathos, aber mit dem Hineingehen in eine Familiengeschichte, die steht für diese Zeit des Zusammenbruchs. Einzig in der Natur gibt es noch Konstanten, im Feigenbaum im Garten des einsamen Hauses von Großvater Aleksandar, Jadran, der Enkel ist Erzähler, und er erbt am Schluss auch Großvaters Haus, in einer grandiosen Schlussszene vereint er sich mit dem Baum, indem er ihn, selbst in fundamentaler Ehekrise, besteigt, um die wichtige Feige zu pflücken.
Es ist kein Roman eines Autors vom Balkan für Leserinnen und Lesern, die vom Balkan stammen, nein; es ist ein Gesellschaftsroman, der exemplarisch Geschichten erzählt, Familiengeschichten, die uns die Geschichte des sein Leben aushauchenden Jugoslawiens erzählen, die uns aufzeigen, wie eng politische Katastrophen mit familiären Zusammenbrüchen verbunden sein können – und wie sehr dennoch das Menschliche aus dieser Katastrophe aufsteigen und siegen kann. Hochachtung. Es braucht Autoren wie Goran Vojnovic, dies uns zu zeigen, und damit die wechselvollen Geschichten des Lebens für uns erhalten zu können. Dafür gebührt ihm Dank!
Goran Vojnovic: Unter dem Feigenbaum. Roman. Geb., 352 S., Folio Verlag, Wien/Bozen 2018. 25 €.