BETTINA BÜRKLE / KLAUS ILLI. PARADISE LOST

Galerie im Prediger Schwäbisch-Gmünd | 11. September – 21. November 2021

ERÖFFNUNG: Freitag, 10. September, 19 Uhr

© Bettina Bürkle / Klaus Illi, Installationsansicht »Paradise Lost« | Bildrechte: Amt für Medien und Kommunikation Schwäbisch-Gmünd

So sehr wir uns das Paradies auch erträumen – eine Rückkehr zu einem paradiesischen Urzustand, zu irgendeiner ursprünglichen Natur kann und wird es nicht geben. Wie eine poetische Metapher auf diesen unwiederbringlichen Verlust liest sich die Installation »Paradise Lost« von Bettina Bürkle und Klaus Illi. Pneumatische Objekte aus farbigem Ballonstoff, die an Blüten oder Fruchtstände, an Pflanzenstängel oder Bäume denken lassen, verwachsen zu einem sinnlich erfahrbaren Raum des Knospens, Blühens, Welkens und wechselvollen Neubeginns. Schlicht und ausdrucksstark zugleich vergegenwärtigt die Installation zweierlei: dass Natur und Kultur einander bedingen und, dass die Luft, die wir atmen, Teil unserer gemeinsamen, komplexen und systemischen Welt ist.

Eigens für die Galerie im Prediger schreibt die Installation das Projekt »Pflanzenatem / Wolkenatem« fort, an dem das Künstlerduo Bürkle / Illi seit 1999 gemeinsam arbeitet.

Zur Ausstellung: Die Vorstellung vom und die Sehnsucht nach dem Paradies, sei es als blühender Garten Eden, als Hafen des Friedens, der Freiheit und der Unbeschwertheit oder als glücklicher Urzustand allen Lebens, existiert seit ewigen Zeiten und beflügelt die menschliche Fantasie bis heute, so auch die Kunst.

FIRMA ELKINGTON, AUSFÜHRUNG/LÉONARD MOREL-LADEUIL (1820-1888), ENTWURF: Milton-Schild, Ende 19. Jahrhundert, Galvanoplastische Nachbildung, Eisenguss, versilbert, vergoldet (Ausschnitt). © Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd.

Der englische Barockdichter John Milton (1608-1674) hat die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies 1667 in seinem Versepos „Paradise Lost“ (1667) sprachgewaltig in Worte gefasst. Ins Bild gesetzt hat sie der französische Gestalter und Silberschmied Léonard Morel-Ladeuil in Zusammenarbeit mit der englischen Silberwarenfabrik Elkington 1866 im sogenannten Milton-Schild für die Weltausstellung 1867 in Paris. Von diesem Schild besitzt das Museum im Prediger eine galvanoplastische Nachbildung aus den gleichen Materialien wie das Vorbild (Silber, Eisen, Vergoldung). Als Referenz für ihre Perspektive auf das Thema nehmen Bettina Bürkle und Klaus Illi diesen Schild in die Ausstellung auf und zeigen ihn im Dialog mit ihrer Installation.

Der Atem als das alles durchdringende Lebensprinzip steht seit 1999 im Zentrum der Kunst von Bettina Bürkle und Klaus Illi. Eine Modifizierung und Weiterentwicklung dieses künstlerischen Konzepts stellt die Installation „Paradise Lost“ dar. Sie entstand eigens für die Galerie im Prediger und verbindet die Atem-Thematik mit dem Paradies-Mythos. Motiv- und Ideengeberin hierfür ist die Natur, die die Künstler jedoch nicht mimetisch abbilden, sondern in kinetisch-pneumatischen Skulpturen visualisieren. Die Installation gruppiert sich aus über dreißig Objekten in unterschiedlicher Größe, die die Künstler aus farbiger Ballonseide fertigen und teils runde, teils schlanken Formen annehmen. Die Skulpturen werden von innen her durch Ventilatoren aufgeblasen; Motoren sorgen für eine Drehbewegung. Die Luftzufuhr lässt sich mittels elektronischer Steuerung und Programmierung nahezu beliebig festlegen. Das Aufrichten erfolgt entlang eines kaum sichtbaren Führungsstabes, bis die Objekte den Zustand der prallen Fülle erreicht haben, um anschließend wieder zu erschlaffen und vermittels der Schwerkraft in ihre Ausgangslage zurückzukehren. Das alles erfolgt in verschieden programmierten, choreografierten Rhythmen. Auf diese Weise entsteht eine bewegte und sich bewegende Inszenierung, die vom Besucher durchschritten und erlebt werden kann.

Bettina Bürkle/Klaus Illi, Installationsansicht “Paradise Lost”, 2021, Ballonstoff, Ventilatoren, SPS-Industriesteuerung, H: 70-370 cm. © VG Bild-Kunst Bonn, 2021, Foto: Klaus Illi.

Die an- und abschwellenden roten Objekte lassen an Blütenstände oder reife Früchte denken. Die senkrecht in die Höhe wachsenden grünen Objekte erinnern an Pflanzenstängel oder Bäume. Assoziationen an ein pralles, natürliches Leben, an Fruchtbarkeit und Wachstum werden ebenso wach, wie das Wissen um den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens, um Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Die atmenden Formen versinnbildlichen das Fließen von Lebensenergie und erzeugen einen Gemeinschaftskörper. Außen- und Innenraum der Skulpturen sind in einer Grenzüberschreitung verbunden. Hülle und Luftstrom bilden ein organisches Kontinuum von Atemgeben und Atemnehmen, das den Betrachtenden unmittelbar mit einbezieht und offenbart: Atmen ist ein ständiger Austausch. Wir atmen ein und nehmen die Welt in uns auf. Wir atmen aus und geben der Welt etwas von uns zurück. Wir sind, weil wir atmen. Wir sind, solange wir atmen – vom ersten Atemzug bei der Geburt, bis zum letzten beim Tod.

Die Installation „Paradise Lost“ weitet zum einen unsere Sinne auf die allumfassende Dimension des Atems, den der Mensch mit allen Lebewesen auf der Erde teilt. Zum anderen öffnet sie den Blick auf unser Verständnis von Natur. In ihrer Künstlichkeit und ihrem Gemachtsein legt sie souverän die Grenzen zwischen Natur, Kultur und Mensch nieder. Sie verdeutlicht, dass diese Trennung obsolet geworden ist in einer komplexen, systemischen Welt der Wechselwirkungen und einer Natur, die kaum mehr frei ist vom Menschen und seinen technisch-kulturellen Eingriffen. Der Mensch selbst ist Teil der Natur und alles, was er geschaffen hat, ist wiederum Natur.

Das bedeutet auch, dass es ein „zurück zur Natur“, eine Rückkehr zu einem paradiesischen Urzustand – wie auch immer man sich diesen vorstellen mag – nicht geben kann und gibt.Kunst, Natur und Technik verschwistern in „Paradise Lost“ zu einer poetischen, mit allen Sinnen und dem ganzen Körper erlebbaren Rauminstallation. In ihr kann unsere Imagination, im tiefen Wortsinn, vielfältig Luft holen – was unsere Vorstellungen und Ideen vom Paradies und der Natur betrifft und darüber hinaus.

Zu den Künstlern:
Bettina Bürkle, geboren 1961 in Heilbronn, studierte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart (1981-89). Sie hat Preise und zahlreiche Stipendien erhalten, darunter den Akademiepreis der Kunstakademie Stuttgart (1986), das Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg (1991) und der Cité internationale des Arts, Paris (1996/97). Zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland begleiten ihre Vita.
Den formalen und inhaltlichen Hintergrund zahlreicher Werke von Bettina Bürkle bilden Kästen (Boxes), die Architektur und den von ihr definierten Raum in Form von Skulptur und Graphik zum Thema haben. Seit 2003 entstehen Objekte, bei denen sich verschieden farbige Acrylglasscheiben in mehreren Ebenen mit- und gegeneinander verschieben lassen. Durch die Transparenz addieren sich die Farben, es bilden sich unterschiedliche Farbräume, je nachdem, welche Farben sich überlagern.

Klaus Illi / Bettina Bürkle, 2021. Foto: Joachim Haller

Klaus Illi wurde 1953 in Stuttgart geboren. Zunächst studierte er Kunst und Deutsch an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Es folgten Kunststudien an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart (1982-85), an der Hochschule der Künste in Berlin (1985-88) und an der Parsons The New School of Design in New York City (1988-90), das er an der Hochschule der Künste in Berlin als Meisterschüler (1991-92) abschloss. Klaus Illi erhielt zahlreiche Stipendien, unter anderem das Visual Arts Scholarship E. F. Albee Foundation, Montauk, N. Y.(1990/92) und das Cité internationale des Arts, Paris (1998/99). Zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland begleiten seine künstlerische Laufbahn.
Ausgehend von Erkenntnissen der Physik begann Klaus Illi Anfang der 1990er Jahre kinetische Kunstwerke zu entwickeln. Luft wurde sein zentrales skulpturales Material.

Beide Künstler leben und arbeiten in Ostfildern bei Stuttgart.