Lea Ammertal im Internet: Website: http://www.lea-ammertal.jimdofree.com
E-Mail: lea-ammertal@web.de
märzschüchtern, Bilder unserer Seele – über die Lyrikerin Lea Ammertal
Lea Ammertal (aus: Irre müde):
Waisenkinder heimatlosen Stunden
jedes Haar aber auf deinem Haupt
gezählt ist weißt du noch wie rat
los blickst du ins Folternirwana
O leerer Blick war welche Fenster
weiden sich dir ich ausradiert ich
endlich ausradiert ist armes Ge
schöpf Brände an papiernen
Worten in Goldrahmen war nicht
ist selbstbestimmt ganz gewiss
es ist ein Sterben
o dass ich tausend Zungen hätte
(aus: Irre müde)
Kurze Pause, um dies nochmal in der angemessenen Ruhe zu lesen.
Lea Ammertals Gedichte lassen uns innehalten; bremsen uns herunter ins Hier und Jetzt. „Irre müde“ – eine Stimmung, ein Zustand: Befindlichkeit wäre wohl der richtige, der moderne Begriff für dieses Gefühl, das wir ja alle schon erlebt haben – die Müdigkeit ist fast zermürbend, doch der Kopf macht und treibt uns weiter, Bilder entstehen, die wir im Alltag dann beiseite wischen, doch noch eine Tasse Kaffee und wieder an die Arbeit.
Der Lyrikerin aber gelingt es, diese Phase, sagen wir: halbbewußter Gedanken in Bilder zu wandeln, die wir Zeile für Zeile und Wort für Wort lesen, spüren, dass da Zusammenhänge bestehen und Assoziationen, die wir zuerst nicht verstehen und deshalb diese Zeilen noch einmal lesen – es ist geschafft: Vom Alltag, in welchem wir unserer festen und lang behaupteten Überzeugung/ Gewissheit entsprechend, sowieso überhaupt keine Zeit haben, holt sie uns (zurück?) ins Hier und Jetzt, ein schon vergessen geglaubter Ort.
Wieder einmal, endlich, ein Künstlerinnnenporträt über eine Lyrikerin; über Lea Ammertal. Eine Künstlerin, die im Schwarzwald lebt und arbeitet und deren Wirkunsgskreis längst weit über den Raum Karlsruhe/Baden hinausreicht.
Aus der Ukraine bei den
Paralympics in Sotchi
gabs für die Frauen wieder Gold und Erdogan
ein Jammer die Türkei
und Fukushima o Fukushima
Jetzt ist sie verschwunden
Abendsonne haben wir
das Bitten ver
lernt festzuhalten
sonst noch was nein
sonst war nichts
(aus: Festzuhalten)
Gedanken, Assoziationen, sinnliche und immer wieder auch politische, scheinbar wild folgen sie aufeinander und verweigern sich jeder Kopfsteuerung oder Nachvollziehbarkeit in einem sachlich-analytischen Sinne – eine Interpretation erscheint hier kaum möglich und ist auch nicht nötig: Wir können die Gedanken – und Wahrnehmungssprünge dennoch begreifen, weil wir, wenn wir die Muße dazu finden, ebensolche in uns selbst spüren. Und diesen wohl oft keinen Raum geben …
Vielen mag dies irrational erscheinen; ich bin mir da nicht sicher: Wenn wir die Nachrichten im TV sehen und hören, erscheint uns, was in dieser Welt geschieht, oft als völlig irrational. Dennoch haben wir gelernt, alles irgendwie rational zu erklären, uns selbst rational, also “vernünftig“ zu verhalten. Für wilde, spontane Assoziationen, sinnliche Wahrnehmungen der Welt, haben wir keinen Platz.
Wir brauchen die Kunst; hier die Lyrik, die uns diesen Teil der Wirklichkeit zugänglich macht.
Hier vielleicht finden wir den Bezug von Lea Ammertals Gedichten zur Musik: Es gibt sehr aufgeräumte Musik, etwa die von Johann Sebastian Bach; auch sehr aufgeräumte Literatur. Die Lyrik Lea Ammertals erscheint mir dagegen als frei improvisierter Jazz. Esbjörn Svensson oder der ganz frühe (noch freejazzende) Jan Garbarek fallen mir hierzu ein. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat der Psychologe William James diese Arbeitsweise mit dem Begriff „Stream of Consciousness“ – Bewußtsseinsstrom) treffend beschrieben. Und doch ist dies, so denke ich, keine Arbeitstechnik, die man/frau lernen kann, sondern eben eine besondere Begabung: Lea Ammertal schreibt eben so – und nicht anders – und sie schreibt nicht nur:
Die Künstlerin arbeitet auch als Regisseurin und als Schauspielerin. Im letzten Jahr, dem Jubiläumsjahr Clara Schumanns, ist Lea Ammertal sehr präsent gewesen vor allem durch ihr Buch „eine andere Musik“, eine recht besondere autobiographische Annährung an diese Künstlerin. Mehrfach auch ist Lea Ammertal aufgetreten als Darstellerin Clara Schumanns, der sie sich auf vielfache Weise verbunden fühlt.
Mit der Epoche der Romantik, die wir ja mit Clara Schumann verbinden, scheint Ammertals Lyrik nicht direkt verbunden zu sein. Doch die Künstlerin freut sich, als ich ihre Gedicht-Texte im Gespräch dennoch spontan als „aktuell gebrochene Romantik“ bezeichne.
Na gut, Lea Ammertals Texte wirken nicht auf Anhieb romantisch. Und doch erlebe ich die oben beschriebene Assoziation zum freien Jazz eben als diese Verbindung. Für Lea Ammertal ist Sprache immer Rhythmus und Melodie. Die Musik ihrer Gedichte ist spontan, im Hier und Jetzt – sie folgt keiner “Ordnung“, sondern der sinnlichen Wahrnehmung.
Das ist dann eben doch romantisch, denn „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“ (Novalis). Gegenüber unserer von Wissenschaft und Technik (rational?) geprägten Welt der instrumentellen Vernunft (seit Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ sehen wir diese befreiende Epoche ja durchaus ambivalent …) bewahrt die Kunst den Bezug zum Magischen. „All the Magic“ hieß das schönste Album des Jazz-Trompeters Lester Bowie, dessen Musik diese Verbindung zum Seelenleben (es gibt keinen Jazz ohne Soul) immer bewahrte.
Abschließen möchte ich meine Gedanken über Lea Ammertals Arbeit natürlich mit einigen weiteren Zeilen der Künstlerin selbst (nochmal aus: „Festzuhalten“):
Schnelle Trommelei
vernehmbar eines
Spechts tock
tock und dass meine
Füße von Schuhen
und Strümpfen be
freit nackte Zehen
aneinander rieben
märzschüchtern
Jürgen Linde im April 2022
Die Bücher Lea Ammertals erscheinen im Brot&Kunst-Verlag