ONLINE LOGBUCH – “Elan Vital – Poesie der Bewegung” – Entry #18

Städtische Galerie Böblingen | 07. 11.2021 bis 20.03.2022 | “Elan Vital – Poesie der Bewegung”

09.03.2022 Eintrag # 18 – Einführungsrede zur Eröffnung der Ausstellung “Von Raum zu Raum – ÉLAN VITAL – Poesie der Bewegung II” vom 06. März 2022 im Schlosskeller Grafenau
Manuela Tirler, Weed IX
Manuela Tirler, Weed IX

-Birgit Wilde-

Herzlich Willkommen im Schlosskeller Dätzingen! Nach der langen Coronapause freuen wir uns sehr, nicht nur mit vollem Elan, sondern auch gleich mit einem großen Ausstellungsprojekt durchstarten zu können.

Parallel zur Dialogausstellung »ÉLAN VITAL – POESIE DER BEWEGUNG I« in der Städtischen Galerie Böblingen, die noch bis zum 20. März 2022 besucht werden kann, startet heute der Kulturkreis Grafenau im Rahmen der Reihe »ART SOUS TERRAIN« mit der Folgeausstellung »Von Raum zu Raum – ÉLAN VITAL – POESIE DER BEWEGUNG II« mit Rauminstallationen von Shirley Cambonie, Thomas Lempertz, Tina Schneider, Kestutis Svirnelis (Kestas) und Manuela Tirler.

Bevor wir uns nun gemeinsam durch die Ausstellung im Schlosskeller bewegen, möchten wir Ihnen noch ein paar Informationen zu dem umfangreichen Ausstellungsprojekt geben:

Der klangvolle Ausstellungstitel „Élan Vital – Poesie der Bewegung“ bezieht sich einerseits auf die künstlerische Avantgarde zu Beginn des Jahrhunderts und andererseits auf das epochemachende Hauptwerk ”L’évolution créatrice“ des französischen Philosophen Henri Bergson (1859 in Paris – 1941 ebenda), für das er 1927 den Nobelpreis für Literatur erhielt und in dem er den Begriff „élan vital” prägte. In der deutschen Ausgabe wurde es mit “Schöpferische Entwicklung” betitelt.

“Elan Vital – Poesie der Bewegung I-III” ist ein kuratiertes, künstlerisches Ausstellungsprojekt. Der Fokus liegt auf der Bewegung im allgemeinen Sinne, die sich als interdisziplinärer Faden durch die geplanten Ausstellungen (Böblingen, Grafenau und Sindelfingen) zieht. So werfen die künstlerischen Exponate vielfältige Fragen auf, etwa danach, wie sich etwas in Bewegung bringen lässt, in welchen Dimensionen wir uns gedanklich bewegen, wohin – ob vorwärtsgewandt oder rückwärtsgerichtet – wir uns bewegen, und was wir in unserem Leben letztendlich überhaupt bewegen können. Während in der Städtischen Galerie Böblingen der Dialog zwischen den KünstlerInnen und den Avantgardisten im Fokus steht, liegt er im Schlosskeller Dätzingen auf Bewegungen im Raum. Denn diese wunderbaren Räume hier im Schlosskeller mit einer ganz eigenen Ausstrahlung unterstützen den Fokus auf das Wesentliche, wir man bereits gleich zu Anfang sieht.

Manuela Tirler, Quake VIII
Manuela Tirler, Quake VIII

Direkt am Eingang werden die BesucherInnen von Manuela Tirlers Arbeit Weed IX aus Stahl von dem sich die Wand bemächtigenden Rankenwerk in Empfang genommen. Ein paar Meter weiter, gleich rechts neben der Treppe, eine filigrane Verästelung, bei der sich die Frage stellen könnte, ob der raumgreifende Ast sich bewegt oder ob (uns) bald was blüht! Trotz des martialischen Materials haben die Arbeiten die Anmutung von etwas Organischem, wozu der natürlich erscheinende braune Rostton wesentlich beiträgt.
Das Werk Quake VIII dagegen gehört zu den Sprengungen, die brachialen Eingriffe in die Oberflächen des Metalls werden zur sinnlichen Metapher einer geschundenen Welt: sei es als verdorrte Kruste, als trockene Ackerfurche oder bewusste Zerstörung. Diese Differenz zwischen Bekanntem und Unbekanntem, Entstehen und Vergehen und die Nähe zur Natur sind ein wichtiger Bestandteil der Poesie von Manuela Tirlers Werken.
Gleich anschließend im sogenannten ‘Zwischenraum’ passieren wir die poetisch und sakral anmutende Raumcollage Pareidolie mit plastischen Objekten von Shirley Cambonie.

Shirley Cambonie, Pareidolie
Shirley Cambonie, Pareidolie

Die geschwungene Form des unteren Teils der aus einer alten Kirchenbank stammenden Holzwange inspirierte die Künstlerin wohl zu dieser komplexen Arbeit. Beobachten – Verbindungen herstellen – Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel – Möglichkeiten der Realisierung durchspielen – produzieren; eine sehr kreative Abfolge. So verbindet sie reale Räume mit virtuellen so geschickt, dass man die Wirklichkeit kaum erkennt. Je nach Perspektive und eigenem Platz im Raum treffen sich das Negative (die Form der Holzwange) und das Positive (die Gipsamphore) durch den Spiegel und verschränken sich und Shirley Cambonie, Pareidolie Manuela Tirler, Weed IX Manuela Tirler, Quake VIII antworten einander. Und nur durch die eigene Bewegung auch mal seinen Standpunkt (nicht nur in diesem Raum) zu ändern, kommt man hier der Wahrheit näher.

Bewegen wir uns aus diesem Zwischenraum ein paar Meter weiter steuern wir automatisch, nein nicht auf den roten Teppich, sondern auf einen rosafarbenen Teppich zu und schon werden wir von Thomas Lempertz raumgreifender Installation magisch angezogen.

Thomas Lempertz, Rauminstallation
Thomas Lempertz, Rauminstallation

Auch hier zeigt sich, wie bereits bei seinem Werk Terpsichore in der Städtischen Galerie Böblingen, wieder die Aufarbeitung seiner bewegten, vom Tanz geprägten Vergangenheit. In dieser Arbeit geht es aber nicht nur um die Ambivalenz zwischen Leichtigkeit und brachialer Kraft, sondern auch um die Verteilung derselben zwischen Tänzerin und Tänzer. Die Ballettstangen, die wie die Stangen eines für kraftzehrende Übungen bekannten Barrens konzipiert sind, erinnern aber durch den rosafarbenen Tanzboden eher an eine Wiege. In der Bedeutung, dass einem das tänzerische Potential wohl schon in die Wiege gelegt sein muss, um diese harte Ausbildung durchstehen zu können – die Wiege der Bewegung. Ergänzend dazu die latexüberzogenen Bilder und Fotografien, die uns wieder an die tänzerische Leichtigkeit erinnern sollen. Auch hier erkennt man wieder die Ambilanz die sich wie ein roter Faden durch das OEuvre von Thomas Lempertz zieht!

Beim Übergang zum nächsten Raum erschrickt uns Tina Schneider mit einem bedrohlich blickenden Auge, dass unwillkürlich an den bedrückenden Roman ‘1984’ von George Orwell erinnert.

Tina Schneider, (Auge Nr. 2)
Tina Schneider, (Auge Nr. 2)

Unübersehbar ist, dass auf Holz der Schwerpunkt ihrer Wahl als Material liegt, mit dem sie die unterschiedlichsten Ziele ihrer Werke realisiert. Ziele, die sie hier den Widrigkeiten dieser Welt widmet, wohl in der Hoffnung, das selbige zuletzt stirbt. Einer Hoffnung, die durch die Wahl ihres organischen Werkstoffs vielleicht Nahrung bekommt, der aber aufgrund ihrer robusten Bearbeitung auch nicht zu blauäugig nachgehangen werden sollte. Vergleiche zu einer comic-haften Darstellung kommen auf, in der Absicht, einer rauen Wirklichkeit leichter begegnen zu können, unterstrichen durch Thomas Lempertz, Rauminstallation Tina Schneider, (Auge Nr. 2) eine helle und weniger bedrohlich wirkende Farbgebung, wie in ihren Werken Manifestation und Speech bubble.

Tina Schneider, put your arms around me
Tina Schneider, put your arms around me

Die zentrale Arbeit put your arms around me unterstreicht diese Ambivalenz, wenn man die englische Bedeutung des Wortes „arms” mit Waffen übersetzt.

Ein paar Schritte weiter erwartet uns ein weiterer ‘Zwischenraum’ indem uns die Künstlerin Shirley Cambonie einen zeitlosen Moment schenkt, damit wir die Stille betrachten können.

Das Werk Jennerwein (bayerischer Wilderer aus dem 19. Jahrhundert) entstand zu Beginn ihres Studiums in einer typischen bayerischen „Boazn” in der das sog. Jägerspiel gespielt wird. Dabei schießen die „Jäger” auf Plastikhirsche und stellen diese Trophäen anschließend stolz zur Schau. Tatsächlich symbolisieren diese Plastikhirsche, die die Fähigkeiten der „Jäger” demonstrieren, in ihrem stehenden, erstarrten, durchlöcherten und ausgesetzten Zustand die faszinierendste aller quantenmechanischen Fragen: das Dazwischen, wie Schrödingers Katze, die in der Zeitlosigkeit des Augenblicks erstarrt ist. Zwischen zwei Welten schwebend, demonstrieren sie unterschwellig sowohl das Leben als auch den Tod. Ein Hohn, durchlöchert und als besiegte Beute zur Schau gestellt zu werden, ruhen sie aufrecht, statisch, so tapfer und stolz wie ihre Erbeuter und illustrieren so das Überleben und die berührende Möglichkeit, dass vielleicht nicht alles vorbei ist.

Shirley Cambonie, Jennerwein
Shirley Cambonie, Jennerwein

Doch lange währt diese Stille nicht! Denn gleich ein paar Meter weiter kann es laut und hektisch werden! Währte eben noch die Stille, scheint sich jetzt alles gleichzeitig zu bewegen! Aber Vorsicht, der Auslöser dafür sind wir selbst! Denn unsere Bewegungen setzen auch die Werke wie Tarnenbaum, Lux und Gleichgesinnte von Kestutis Svirnelis (Kestas) durch versteckte Bewegungssensoren in Bewegung. Ein Querverweis zur kinetischen Kunst der 60er Jahre.

Unübliche, aber auch “arme” Materialien sowie ungewöhnliche Kombinationen wie in seinen Werken Lux und Pelz kommen bei Kestas immer wieder gern zum Einsatz. Fundstücke aller Art, wie z.B. das Armeetarnnetz für sein Werk Tarnenbaum oder ausrangierte Kleidung, wie in seinem Werk Gleichgesinnte, werden dabei gezielt und verspielt Tina Schneider, put your arms around me Shirley Cambione, Jennerwein mit industriell vorgefertigten Produkten (Gummihandschuhe, Grillrost,…) kombiniert und können als dadaistischer Querverweis gedeutet werden. Ob wie panisch um sich schlagend, sich aufblasend, in die Höhe strebend oder leicht pulsierend kann uns die sich mal aufsehenerregend, mal fast unmerklich bewegende Installations- und Objektkunst von Kestas überraschen, begeistern oder uns bisweilen erschrecken.

Kestas, Pelz
Kestas, Pelz

Wir sind jetzt am Ende der Ausstellung angelangt und ich bedanke mich auch im Namen von Rita Graf und Ihrem Team, sowie von Corinna Steimel für Ihren Besuch im Schlosskeller Dätzingen! Die Ausstellung »Von Raum zu Raum – ÉLAN VITAL – POESIE DER BEWEGUNG II« kann einschließlich bis zum 3. April 2022 jeweils Sa + So von 14 – 17 Uhr besucht werden.
Weitere Informationen zu den KünstlerInnen sowie spannende Einblicke zu diesem umfangreichen Ausstellungsprojekt finden Sie hier im »Online-Logbuch«.