Erzählkosmen im Bild –

Ein wundersames Kunst-Text-Buch von Martina Clavadetscher

Buchtipps von Uli Rothfuss

Was für ein Buch. Ich lese und bin .. berührt .. fühle mich getroffen, bin begeistert und zugleich verwirrt – ganz im Sinn von: aus der Bahn geworfen, durch diesen Griff der Autorin in die Tiefen des Schreibkastens, zu Mitteln und Methoden der Darstellung mit Worten, die in ihrer Vielfalt bestechen, zugleich im Detail in die Tiefe gehen und mir vor Augen führen, was sich da verbergen kann so direkt vor meinen Augen, wenn ich Kunst, wenn ich ein Bild, ein Frauenbildnis ansehe, sei es im Museum, oder – das Buch macht es vor – in einem ansprechend gemachten Kunstband.

Das Buch sticht erst einmal ins Auge mit einem grandios gestalteten Cover, mit einer Titelgestaltung, die schlicht herausragt aus dem Gebräu der Alltagsbücher. Mit einer Gestaltung von Délacroix‘ Jeune Orphéline, typografisch herausragend gelöstem Buchtitel, ansprechender Farbgestaltung – das Buch verlangt, in die Hand genommen, zärtlich angefasst zu werden, es verlangt, dass man mit den Fingern über den Titel fährt. Es vorsichtig aufzuschlagen, um einzudringen in diesen seltsam den Leser hineinziehenden Kosmos zwischen Bild und Wort. Es ist aufregend, das zu unternehmen, es sind an die zwanzig Seh- und Leseerlebnisse, die Martina Clavadetscher da ausbreitet, Geschichten, bei denen sie die Klaviatur ihrer erzählerischen Möglichkeiten gekonnt variiert, Perspektiven einnimmt und verändert, den künstlerisch Abgebildeten aus rund 300 Jahren Kunstgeschichten so je ihre eigene Stimme gibt, so wie sie recherchiert und sich das vorstellt – und wie es mühelos doch sein könnte. Martina Clavadetscher ist eine Könnerin der Variation von Stimmen, von Erzähllinien, mit denen sie die oft zu Unrecht Vergessenen, die nur noch als Abbild existieren, herausreißt, ihnen Farbe, Blut gibt, ihnen Leben schenkt, sodass sie ihr eigenes Leben erzählen. Es ist nicht anstrengend, nein, das zu lesen, im Gegenteil, es macht geradezu Spaß, so mehr zu erfahren über die Bildmotive, über die Frauen der Künstler, die da dargestellt sind, und natürlich über die Künstler selbst.

Freilich ist es in weiten Teilen Fiktion, wenn auch, wie die Autorin betont, anhand von Fakten in Recherchen zu den Bildern untermauert, so doch in der Zusammenstellung Imagination der Autorin, die mit weiblicher Einfühlungskraft in die Sichtweisen der Dargestellten schlüpft und ihnen zärtliche, irritierend schwache, dann wieder unbändig starke Stimme gibt. Frauen verschiedener Kulturen und Herkünfte, aus der Karibik über das Frankreich des 20. Jahrhunderts bis hin zu afroamerikanischen Wurzeln gelingt es ihr scheinbar mühelos, auch diese zu Stimmen werden zu lassen, so der Weiblichkeit insgesamt eine starke Stimme zu verleihen. Es ist faszinierend, so von einem Erzählkosmos zum nächsten zu springen, hineinzutauchen, und zugleich einfach viel zu erfahren, ja, zu lernen, über Kunst und über Sichtweisen auf Kunst.

Ist es ein feministisches Buch? Schwierige Frage. Wenn man in Betracht zieht, dass Martina Clavadetscher in ihren Erzählungen Frauen in den Mittelpunkt stellt und den diese Malenden die Randposition zueignet, dann ja; wenn man sieht, wie viel mehr die Frauen in diesen Erzählungen sind als bloße Objekte der Betrachtung, als Modelle für den Akt, und wenn man sieht, mit welcher sprachlichen Energie sie den Frauen ein Gesicht und intellektuelles Format verleiht, dann ist das freilich ein Buch, das die Frauenenergie in den Vordergrund stellt.

Es ist ein wundersames Buch, eine originelle Idee der Aufarbeitung von Kunst, das da vor mir liegt, ein Buch mit so unterschiedlichen Geschichten zu Bildern, so unterschiedlich wie die Bilder sind, wie die Biografien der Frauen waren. Ein Herangehen an das Schaffen von Literatur wie man es bisher kaum kennt, es hat das Zeug, ein eigenes Genre zu schaffen: Schreiben zu und über Kunst, und zwar durch biografische Annäherung. – Ein Buch, in das, so denke ich mir nach Abschluss der Lektüre, immer wieder hineingelesen werden kann, weil die Erzählweise so zeitlos ist, dass die biographischen Exkurse immer wieder ansprechen und mitnehmen.

Ein Leseerlebnis, unbedingt. Zugleich, die zugrundegelegten Bilder im Band sind in hervorragenden Reproduktionen zu sehen, eine Art Kunstband mit Storytelling zu den Bildern, ein Wagnis auch für jene, die vorderhand sich für die Bildende Kunst interessieren, und die hier ihren Mehrwert erhalten.

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. Geb., 240 S., Unionsverlag, Zürich 2022. 24 €.