Scheitern als Methode

Kunstausflüge mit Sigrid Balke | zur Ausstellung Alberto Giacometti – Vis à Vis im Kunstmuseum Ravensburg (23.03. -23.06.2024 )

Scheitern als Methode

Bild links: Ausstellungsansicht; Foto: Harald Lambacher

Sein Ziel war zeitlebens die Erfassung der Menschlichkeit des Menschen, seine Lebendigkeit, sein Wesenskern. In der Wahrnehmung der Kunstbetrachter und Kunstkritiker hat Alberto Giacometti das erreicht. Der Schweizer Künstler war schon zu Lebzeiten eine Legende, ein Vorbild für andere Künstler, gut vernetzt in der Pariser Kunst- und Literaturszene und finanziell abgesichert. In seiner Pariser Wahlheimat pflegte er die Rolle des Bohemiens, behielt auch als erfolgreicher Künstler sein kleines Atelier im Künstlerviertel Montparnasse und gab sich – radikal selbstkritisch – mit dem Erreichten nie zufrieden. Nach einer ersten Ausstellung 1935 im Louvre stürzte er in eine mehrere Jahre andauernde Schaffenskrise voller Selbstzweifel. „Es ist unmöglich etwas wirklich zu vollenden“ – dieses Zitat Giacomettis beschreibt seine radikale Selbstkritik, die der Antrieb zur kompromisslosen Weiterentwicklung seines Werkes war und ihn, zusammen mit seinem unkonventionellen Lebensstil, zu dem existentialistischen Künstler schlechthin machte.

Das Kunstmuseum zeigt Werke Giacomettis aus dieser Zeit, in der er über die verschiedenen Gattungen hinweg versuchte, mit kleinen Strichen die Konturen des Gegenübers abzutasten, dessen Blick dabei immer im Fokus. Vis à Vis will Giacomettis nicht abbilden, sondern das Wesen des Gegenübers erfassen. Sein Empfinden daran zu scheitern, war für ihn keine Niederlage, sondern Motivation für einen Schaffensprozess, an dem er permanent arbeitete. Sein Bruder Diego und seine Frau Annette waren ihm die liebsten Modelle, die er immer wieder in Zeichnungen, Ölbildern und Skulpturen darstellte. Die Strichführung und die unruhige Oberflächenstruktur, das Spiel zwischen Raum und Nichtraum ist bei allen Gattungen gleich – unverkennbar Giacometti! Die Gegenüberstellung seiner Zeichnungen mit den Skulpturen, ist ein kuratorischer Kniff für eine faszinierende Wechselwirkung. Die Skulptur La Cage von 1950 gehört dabei sicherlich zu den bekanntesten, eine Büste seines Bruders Diego und einige wunderbare Miniaturplastiken zu den sehenswertesten dieser Ausstellung, während man die ganz berühmten, spindeldürren Figuren Giacomettis vergeblich. sucht. Was das Kunstmuseum Ravensburg bietet ist die Entdeckung seiner großartigen zeichnerischen und grafischen Arbeiten und die Annäherung an einen Künstler, der sein Leben lang zweifelte.

Giacomettis Skulpturen sind dreidimensionale Zeichnungen im Raum, und damit die konsequente Weiterentwicklung seiner grafischen Arbeiten. Ergänzen die Skulpturen die Zeichnungen, oder die Zeichnungen die Skulpturen? Auch in der Nähe bleibt immer eine gewisse Distanz, die den Figuren durch das Weglassen erkennbarer Details ihren Raum lässt, den sie in Giacomettis Spätwerk dann nahezu ganz verlassen. Was bleibt sind Konturen, der existenzielle Wesenskern.

Bild oben: Alberto Giacometti @ work; Foto: Harald Lambacher

Die Ausstellung beginnt im Kabinett im Erdgeschoss des Kunstmuseums. „Der Künstler im Blick der Anderen“ zeigt dokumentarische Fotografien von Giacometti unter anderem von Henri Cartier-Bresson oder Ernst Scheidegger. Ein Video gibt Einblicke in sein künstlerisches Arbeiten im Atelier, zeigt Stationen seines Lebens und ergänzt sie mit Interviews seiner Familie und seiner Wegbegleiter und dem Mappenwerk mit dem Zyklus Paris sans fin als Hommage an seine Wahlheimat Paris. Das erste Stockwerk ist ganz den Arbeiten des Schweizer Künstlers gewidmet, die zweite Etage der Künstlergruppe Cobra für die Giacometti ein wichtiger Orientierungspunkt war.

Von Eberhard Kernfeld, Kunstmäzen, Auktionator Galerist und Wegbegleiter von Alberto Giacometti, erwarb Helmut Klewan, Galerist in Wien und später in München, vor allem im Zeitraum zwischen 1970 und 1990 zahlreiche Zeichnungen Giacomettis. In dieser Zeit setzte er wichtige Impulse im künstlerischen Leben Münchens und präsentierte 1987 als Erster in einer Münchner Ausstellung Giacomettis suchende Annäherung an die Erscheinung des Menschen im Raum. Berühmt ist die Sammlung Klewan für ihr Konvolut von Arbeiten Alberto Giacomettis, das zu den umfangreichsten im deutschsprachigen Raum gehört.

Ausstellungsdauer: bis 23.Juni 2024