..in den Raum hinaus – Nina Joanna Bergold

Nona Joannas Kunst habe ich für mich “entdeckt” dank der Ausstellung “Another Whale’s Song” im Kunstverein Ulm; 18.06. – 13.08.2023:

“Im Herumgehen um meine Arbeit „Netzschwimmer“ verändern wir immer wieder unsere Perspektive und Wahrnehmung. Figürliches wird sichtbar, greifbar, stellt Fragen und verschwindet wieder. Material wird zur Figur und dann wieder zu schwarzer Folie. So wie die „Netzschwimmer“ abhängig sind von unserem Blickwinkel, sind wir abhängig von unseren Standpunkten und eingeübten Betrachtungsweisen. Was wir gesehen haben, bestimmt, was wir sehen. Wir sind scheinbar frei in unseren Meinungen, feiern unsere Individualität und doch bleiben wir ständig miteinander und mit unserer Umgebung und Umwelt verwoben. Ob wir dabei in unseren „Haltefäden“ festhängen oder von ihnen getragen werden, ist eine Sache des Blickwinkels.
Der Wal ist für mich ein Bild für unser eigenes „in der Welt sein“ zwischen Materie und Wirklichkeit. Er hält uns den Spiegel vor – und verschwindet dahinter. Er ist Tier, Körper, schiere Masse. Ein Wesen, fremdartig, flüchtig. Der Wal als solcher verändert sich mit unserem Blick auf ihn und uns. Wir können ihn verfolgen, abhören, sezieren. Wir machen ihn zum literarischen Helden und zum Beifang. Was sehen wir wirklich? Oft nicht viel, ein paar schwarz glänzende Rückenteile oder Schwanzflossen, aufgenommene Frequenzen, ein ausgestelltes Skelett im Naturkundemuseum.
[ Nina Joanna Bergold zu ihrer Ausstellung ]

Unser-In-der-Welt-sein oder auch unser “In die Welt geworfen sein“ – ein existenzielles Gefühl?, eine Erfahrung, die wir alle machen oder gemacht haben? Weitere Fragen – als mögliche Interpretationsansätze – lassen sich endlos anschließen.

“In die Welt geworfen sein“ – allemal ein Bild, das sich angesichts der Rauminstallationen von Nina Joanna Bergold aufzudrängen scheint. Eine Metapher, die zurückgeht auf den Philosophen Martin Heidegger, dessen genialische Züge und Qualitäten kaum jemals in Frage gestellt werden. Auch nicht von denen, die ihn politisch “verurteil(t)en“.

Nina Joanna Bergold liefert auf ihrer bestens strukturierten Website einen umfangreichen und guten Überblick über ihr bisheriges künstlerisches Schaffen. Schön aufgeteilt in Werkgruppen, die zeitlich nicht streng nacheinander, aber doch in einer gewissen chronologischen Aufeinanderfolge entstanden sind: die aktuelle und wichtigste Werkgruppe ist die der Folienschnitte, die die Künstlerin in den letzten Jahren immer wieder in faszinierenden Präsentationen ausgestellt hat – immer raumbezogen; meist auch ortsbezogen. Eine der Künstlerin wichtige Unterscheidung.

Bleiben wir noch kurz auf der Künstlerinnenwebsite: wo andere Künstler meist “Biographie“ oder “Vita“ oder “Lebenslauf” schreiben, nennt Nina Joanna Bergold diesen Menüpunkt einfach “Ich“.

Womit wir zurück sind bei Martin Heidegger. So schreibt Peter Trawny im Philosophie Magazin (Sonderausgabe Nr. 9, 2017):
Martin Heideggers Ausrichtung auf das je eigene menschliche Leben als Ausgangspunkt seiner Philosophie, machte ihn zu einem der wirkmächtigsten Erneuerer des Denkens im 20. Jahrhundert.“
(Heideggers Vermächtnis: Wir sind in die Welt geworfen)

Also mal wieder unser vielzitiertes Ich in unserer überkomplexen Welt. Schon wieder landen wir im Bereich der Überkomplexität, in die man ja leicht bis zwangsläufig hinein, und aus der man nicht oder nur sehr schwer wieder heraus findet. Trawny nennt uns dann einige Orientierungspunkte aus der Zeit, in der Heidegger glänzte: einer Zeit, in der Kafkas Verwandlung erschien und in der Rainer Maria Rilke vielen der wichtigste Dichter war.
Aus früheren Künstlerporträts wissen wir, dass wir uns derart Schritt für Schritt weiterhangeln können, wobei die Richtung manchmal verloren zu gehen droht – die Überkomplexität verführt uns dialektisch durch ihre immanente Gefahr der Beliebigkeit.

Nina Joanna Bergold besuche ich in ihren großzügigen Atelierräumen auf einem früheren Fabrikgelände in Ludwigsburg. Bei unserer Begegnung dort sprechen wir über Philosophie, über Kunst und Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Mit Douglas Adams („Per Anhalter durch die Galaxis“) möchte ich sagen : Unser Thema war das Leben, das Universum und der ganze Rest.

Wir wollen damit jedoch dem o.g. Thema – das Ich in unserer überkomplexen Welt nicht einfach ausweichen / entfliehen. Doch nähern wir uns einer Antwort (42?) nicht in der Philosophie, sondern eben mit der Kunst, die Nina Joanna Bergold, ich formuliere mal so: als Teil eines umfassenden Kommunikationsprozesses begreift:
“Ich finde es spannend, wie die verschiedensten Themen sich doch immer wieder begegnen und überlappen. Wohin gehen wir als Gesellschaft, was verändert sich an unseren Hirnen durch unsere zunehmend genutzten technischen Hilfsmittel? Wie machen wir sie uns zu eigen? Was passiert in und mit unseren Körpern, wenn wir Schnittstellen schaffen zur Umwelt, und wie fluid ist die Grenze eigentlich zwischen einem Körper zur Umwelt? Wo steckt unser Bewusstsein? Wie unterscheiden sich die verschiedenen Beobachtungsformen – was unterscheidet den Blick der Kunst auf diese Themen vom Blick der Wissenschaft? Wie sind wir in unseren verschiedenartigsten „Netzen“ gefangen – oder sind wir darin gehalten? In der Hinsicht ist das Rätselhafte vorprogrammiert: Alle diese Fragen sind letztendlich auch in der Wissenschaft noch offen. Ich stelle lieber Fragen oder fantasiere ein wenig.”
Quelle: Im Gespräch mit: Nina Joanna Bergold – KuneOnline, 2022

Das klingt nun nicht einfach, aber eben doch greifbar und verständlich. Vom Material und vom Arbeitsprozeß her kommend bis hin zur (subjektiven) Wirkung der künstlerischen Präsentation im Galerien- oder musealen Raum.
Kunst als Frage nach unserem Platz in der Welt. Sind wir also durch ein vernünftiges Mass an Demut und Bescheidenheit der beängstigenden Gefahr der Überkomplexität entkommen?

Ihr künstlerischer Weg führte Nina Joanna Bergold von der (im gesamten Werk der Künstlerin weiterhin immer präsenten) Zeichnung hin zur Technik des Folienschnitts: die ja zweidimensional produzierten Arbeiten werden in den Raum hinein positioniert. Oft werden die Werke auch schon auf einen bestimmten Raum hin gestaltet. Insofern unterscheidet Nina Bergold klar zwischen orts- und raumbezogenen Arbeiten.

“Gerne würde ich manchmal“, sagt mir die Künstlerin im Gespräch, “meine eigenen Räume mitbrigen.“

Da oft aber die Zeit nicht genügt, um für die einzelnen Ausstellungsorte jeweils ganz spezifische Werke zu realisieren, muss die Künstlerin immer wieder vorhandene Arbeiten in den wechselnden Orten präsentieren. So entstehen auch immer wieder überraschende und spannende dialogische Bezüge. Die Überkomplexität zwischen dem Ich und der Umwelt; hier auch lesbar als Dialektik zwischen Innen und Außenwelt bleibt uns also erhalten, erscheint erneut.

Es gibt wohl kein Entkommen. Vielleicht erweist sich genau hier eine gewisse Überlegenheit der Kunst gegenüber der Philosophie: die Kunst stellt sich durchaus der Überkomplexität der Welt, doch dies gelingt ihr auf einer (auf ihrer) eigenen Ebene: eher spielerisch und dialogisch, kommunikativ.

Im Text zur eingang erwähnten Austellung im KV Ulm schreibt die Künstlerin:
Nina Joanna Bergolds Arbeiten sind gefühlte Zustände und Gedanken in Folie – gezeichnet in den Raum. Flüchtige, manchmal zerschnittene und fragmentarische Vermutungen über das Lebendige in uns. Das wir nie richtig zu fassen bekommen. Denn wir können nicht aus unserer Haut, um es einmal in Ruhe im Ganzen von außen zu betrachten.

Doch die Kunst kommuniziert mit und in unserer Welt; letztlich erweist sich sogar das Material selbst im engeren Sinne als treibende Kraft: von der Zeichnung über die Scherenschnitte/Folien weiter in den Raum:
“Die Folien selbst“, so sagt mir die Künstlerin Nina Bergold, wollen

“…in den Raum hinaus!“

Jürgen Linde im November 2024