Schöner Wohnen in der Kunsthalle Tübingen – Architekturvisionen von 1900 bis heute

Kunstausflüge mit Sigrid Balke | KunsthalleTübingen | 07.06. – 19.10.2025

Die Kunst ist ausgezogen, präsentiert sich an der Fassade des gegenüberliegenden Hochhauses in einer illusionistischen Installation des Berliner Künstlers Bernd Ribbeck, und hat in der Kunsthalle Platz gemacht: Für faszinierende Architekturfantasien bis zu dystopischen Schattenseiten urbaner Wohnformen. Architekturzeichnungen, durch Künstliche Intelligenz und Zeichenroboter längst überflüssig geworden, haben für die Leiterin der Kunsthalle und Kuratorin dieser Ausstellung, Dr. Nicole Fritz den Status einer Kunstform. Als Teil des Alltags macht sie den Zeitgeist für jeden unmittelbarer und greifbarer. Vom Beginn des 20.Jahrhunderts bis in die Jetztzeit führt der Parcours über die drei Ebenen der Kunsthalle in weitgehend unbekannte Gestaltungswelten. Die meisten Entwürfe wurden – bis auf wenige Ausnahmen – nie realisiert. Manches was damals nicht möglich war, wäre inzwischen technisch machbar “ so der Leiter des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, Peter Cachola Schmal, „ob es von den Künstlern überhaupt gewollt war ist eine andere Sache. Architektur ist immer Ausdruck von Zeitgeist und gesellschaftspolitischen Strömungen“. Unter diesem Aspekt könnte die Ausstellung in der momentanen Diskussion um bezahlbaren, ökologischen und Gemeinschaft stiftenden Wohnraum nicht aktueller sein. Mit 50 Exponaten und Kompetenz in Sachen Architektur hat das Architekturmuseum wesentlich zur Ausstellung beigetragen.

Schöner Wohnen“, der Titel der Ausstellung weckt Assoziationen an ein gleichnamiges Hochglanzmagazin, aber auch an George Orwells Roman Brave New World – Schöne neue Welt. Genau zwischen diesen beiden Polen – als Ausdruck von Zeitgeist oder als radikaler Gegenentwurf – zeigt die Ausstellung ein breites Spektrum: expressionistische Architekturfantasien geprägt von den Zerstörungen des 1.Weltkriegs und den Krisen Anfang des 20. Jahrhunderts, ein Filmausschnitt aus Fritz Langs Metropolis, Visionen avantgardistischer Wohnformen, die für industrielle Massenproduktion ausgerichtete minimalistische Bauhausarchitektur, an Hundertwasser-Gebäude erinnernden Zeichnungen und Modelle organischer Häuser des Architekten und Künstlers Engelbert Kremser, experimentelle High-Tech Utopien der 60er Jahre, kultur- und konsumkritischen Ansätze der Postmoderne und die zu Wohntürmen gestapelten Wohnkapseln des japanischen Architekten Kishō Kurokawa, als Rückzugsorte gestresster Business-Nomaden in modernen Megastädten. Das ikonische Wohn- und Bürogebäude von 1972 wurde erst vor wenigen Jahren abgerissen, und erlebt – zeitgemäß interpretiert – als Tiny House eine Renaissance. Zu sehen und zu begehen ist eine dieser Wohnkapseln im Außenbereich der Kunsthalle. Zukunftsorientierte Ideen steuerte die Hochschule Darmstadt bei. Der Entwurf der Studentin Amelie Weyer entstand im Fachbereich digital I emerging design technologies der Hochschule Darmstadt und visualisiert zum einen ihre Vorstellung von zeitgemäßer Architektur und zeigt zum anderen die Möglichkeiten der digitalen Transformation für den Entwurfsprozess. Das Resultat ist in der Kunsthalle erlebbar: eine Wohnform, die für mehr Miteinander konzipiert wurde – eine kollektive Architektur für die Gemeinschaft mit einem spielerischen Ansatz. Häuser als Abgrenzung zur Außenwelt kommen im Denken der jungen Generation nicht mehr vor.

Ergänzt wird die Ausstellung mit dem Projekt Home/Zuhause der Künstlerin Simone Rueß. Auf der Grundlage von Interviews mit Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund setzte sie deren inneren Bilder von einem imaginären Zuhause zeichnerisch in fiktive Architekturen um. Man muss kein Insider sein, oder die Koryphäen der Architekturgeschichte kennen, deren Werke in der Ausstellung zu sehen sind, um zu verstehen: Wohnen war und ist ein Thema mit großem Einfluss auf unser Wohlbefinden, unser Sozialverhalten und unsere Identität. Die Ausstellung liefert dazu jede Menge Denkanstöße.

Ausstellungsdauer: bis 19.Oktober 2025

© Text: Sigrid Balke; Alle Fotos in diesem Beitrag: © Harald Lambacher