Marc Peschke | Mehr als ein Beweis, dass etwas war.
Barry Falks Buch „In Search of Amnesia“

Mehr als ein Beweis, dass etwas war.
Barry Falks Buch „In Search of Amnesia“

Die Suche nach der eigenen, jüdischen Familiengeschichte wurde gerade in dem US-amerikanisch-polnischen Spielfilm „A Real Pain“ zum Filmstoff. Der Titel bezieht sich auf den Schmerz, auf das Trauma der Shoa, das die Tragikomödie mit ihren beiden Protagonisten, zwei sehr ungleiche Cousins aus New York, auf reichlich ungesehene Weise behandelt.

Eine Reise in die Familienvergangenheit hat auch der in Großbritannien lebende Fotograf Barry Falk unternommen, als er 2017 nach Krakau flog, um ein Fotoprojekt zu starten, das ihn fünf Jahre lang beschäftigen sollte. Von der Suche nach der eigenen Geschichte entwickelte sich das Projekt zu einem Werk mit universellerem Anspruch: Wie lässt sich Erinnerung bewahren? An Orten des Grauens?

Schon der Titel des jetzt erschienenen Buchs, „In Search of Amnesia. Jewish Narrative in Poland and Ukraine“, weist auf den Wunsch nach Verdrängung hin, genauso wie auf den Wunsch, die Erinnerung zu bewahren. Schlichte Naturbilder einer verschneiten Landschaft, die in Auschwitz entstanden sind, Holzstämme am Wegesrand, ein alter Güterwaggon, ebenfalls auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers fotografiert: Damit beginnt dieser Band.

Doch nicht nur Orte, Städte und Dörfer, versammelt das Buch. Auch Dinge, Objekte jüdischer Geschichte, die in Museen aufbewahrt werden. Falk versteht sein Werk nicht als rein fotografisch. Gespräche mit Historikern, Archivaren, Denkmalpflegern, Ethnografinnen oder Archäologinnen sind Teil seiner Arbeit gewesen. Einen Wohnwagen hat er in der Nähe von Treblinka fotografiert – aber auch Porträts sind in diesem Buch zu finden. Wie etwa jenes von Judy Josephs und Rose Lipszyc, die den Holocaust im Ghetto der ostpolnischen Stadt Lublin überlebt haben.

„Mein Interesse“, sagt Barry Falk, „galt dem kollektiven Gedächtnis im weiteren Sinne, insbesondere, wie die jüdische Erinnerung an Orten bewahrt wird, die Gräueltaten und Verlust erlitten haben.“ Gleichzeitig ist dieses Buch auch eine Erinnerung an die ehemals so lebendige jüdische Kultur in der Ukraine und in Polen. Die Spurensuche, die Barry Falk betreibt – in Kleinstädten und Dörfern, in verfallenen Synagogen, in Museen, in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Belzec, in verfallenen Holzhäusern in Kock, wo einst jüdische Familien lebten – reicht über das Persönliche weit hinaus.

„Es hätte etwas Persönliches sein können, eine Rückkehr zu bestimmten Familien“, resümiert Falk sein Projekt. So ist es etwas anderes geworden. Historische, fotografische Dokumente, Zeichnungen und Architekturskizzen finden sich in diesem Buch genauso wie Architekturfotografien früherer Schtetl in Ostpolen oder der Ukraine. Einst faszinierende Orte des Geistes und des Glaubens, von denen heute noch Spuren sichtbar sind. Fotografie kann auch dies leisten: Erinnerung schaffen, Zusammenhänge herstellen.

Die vorletzte Fotografie in diesem Buch zeigt das frühere Schtetl Bohuslav in der Ukraine. Ein Blick auf die in fahlem, unwirklichem Licht liegenden Häuser, Gärten und Schuppen. Die Bäume sind kahl. Es ist Winter. Als gleichsam verdichteter, innerer Ort erscheint uns diese Fotografie. Der Verlust des Gedächtnisses, die Amnesie ist nicht vollkommen. Reste der Vergangenheit schimmern zu uns in die Gegenwart.

Der Band ist ein weiterer Beleg für die Wirksamkeit des fotografischen Mediums, nicht so sehr als Kunst, sondern als Dokument. Dennoch gelingt es Barry Falk, Bilder zu schaffen, die über diesen dokumentarischen Charakter hinausgehen und etwas Unsagbares in sich tragen. Diese Bilder sind mehr als ein Beweis, dass etwas war. Sie erzählen nicht nur vom Sichtbaren, sondern auch von dem, was dem Auge verborgen bleibt. Wie wichtig, wie tröstlich, dass es solche Fotobücher heute noch gibt.

07.07.2025

Text: © Marc Peschke