CityX – Zeichen der Welt

Doris Graf hat ihre eigene Kunstform geschaffen

E-Mail: dodograf@web.de
Web: www.dorisgraf.de

Bild oben: „CityX – Eu, Rio / The Whole City“

Zum Start ihrer aktuellen Ausstellung: Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen |
15.05. – 28.09.2025: | Studioausstellung: »Doris Graf – XPlacesToBe« hatte ich endlich Gelegenheit, die Künstlerin kennenzulernen.

Immer wieder bin ich selbst in den letzten Jahren auf Arbeiten von Doris Graf – ihre Piktogramme – gestoßen und hatte schon länger vor, mich mit dieser eigenartigen, besonderen Kunst zu befassen, die, obwohl oder weil sie gleich auf den ersten Blick plakativ ansprechend wirkt, eben doch ein Geheimnis zu verbergen scheint, dem ich auf den Grund gehen wollte – was ist CityX?

Bild oben: Ausstellungsansicht Studioausstellung: »Doris Graf – XPlacesToBe« in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen.

Klar war, dass sich hinter den individuell sehr vielfältigen, gleichzeitig aber durchweg einheitlich und klar strukturierten Arbeiten ein Konzept verbirgt. Nun verbinden viele mit dem Begriff Konzeptkunst das Vorurteil der „Verkopfung“, “so dass man womöglich erst das Buch dazu lesen oder gar ein paar Jahre Kunst studieren muss“ um dann vielleicht diese Kunst zu “verstehen“ oder gar mit Freude wahrnehmen zu können.

Doris Grafs Ausstellungen jedoch ermöglichen auf Anhieb, schon auf den ersten Blick, humorvolle und erfrischend sinnliche Kunsterlebnisse. Umso mehr stellt sich uns Betrachtern die Frage „Wie ist das möglich, wie macht sie das?“ Die Frage nach dem Konzept hat nun jede abschreckende, zu sehr nach Anstrengung klingende, Wirkung verloren, stattdessen freuen wir uns darauf, anhand dieses Beispiels zu sehen, wie Konzeptkunst entstehen kann.

Die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, die ihre Aufgabe der Kunstvermittlung sehr ernst nimmt und dabei immer wieder zu verblüffenden, kreativen Lösungen findet, hat für diese Ausstellung ein eigenes, mehrstufiges Konzept entwickelt. Die hier besonders engagierte Kunstvermittlerin, die Leiterin der Galerie, Dr. Isabell Schenk-Weininger, zelebriert hier insofern Kunstvermittlung selbst als Konzeptkunst: Auf der Website der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen finden wir das Ausstellungskonzept (Studioausstellung: »Doris Graf – XPlacesToBe« ) kurz und verständlich erklärt.

Alles begann mit CityX Eu, Rio:

CiytX – Eu, Rio | Kunstprojekt 2012/13| Beginn: CRIO Biennale Rio de Janeiro, 2012
Mit Eu, Rio, das Doris Graf im November 2012 als offizielle Vertreterin Baden-Württembergs auf dem <Creativity World Forum> in Rio de Janeiro initiierte, hat damals dieser gänzlich neue Moment Einzug in das Schaffen der Künstlerin gehalten: 
Aus gut 500 gesammelten Einzelzeichnungen entstehen schließlich 16 piktografische Kunstdrucke, die gemeinsam die Stadt Rio de Janeiro charakterisieren, die das Wesen, die Identität dieser Stadt zeigen – aus der Sicht ihrer Bewohner. Ein neues Format war geboren.

Eine besondere Ehre war es für Doris Graf, einige Jahre später vom Ministerium für Kultur in Kuba eingeladen zu werden, ein CityX Kunstprojekt in Havanna durchzuführen.

CityX – Yo, Habana | Kunstprojekt 2016/19 | Beginn: Zeichenaktionen 2017, Buchmesse Havanna, 2017
Während der kreativen Aktivitäten an unterschiedlichen Orten in der kubanischen Hauptstadt zeichneten die Beteiligten, was ihren Bezug zur Stadt zum Ausdruck bringt. Zeichnerisches Können spielte keine Rolle. Danach wurden die gesammelten Werke im Studio von Doris Graf nach Themen und Motiven geordnet und in 16 piktografische Bilder zusammengeführt, ähnlich wie die Menschen gezeichnet haben. Jedes gezeichnete Bild wurde für die Ausarbeitung des Stadtbildes am Ende berücksichtigt. Auf Einladung des Ministeriums für Kultur in Kuba wurde das piktografische Stadtbild zusammen mit ausgewählten Zeichnungen auf der 13. Biennale in Havanna, 2019, in der Galerie Frieda Kahlo feierlich präsentiert.

Bild oben: „CityX – Yo, Habana“, Zeichenaktion, Havanna, Kuba

Bild oben: Galerie Frida Kahlo, 13. Biennale in Havanna, 2019

Medienübergreifend und interaktiv ausgelegt, bietet CityX den Menschen vor Ort Gelegenheit, ihrer Wahrnehmung des urbanen Raums, ihren damit verbundenen Einsichten und Emotionen mit zeichnerischen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Das Kunstprojekt zielt auf breite Repräsentation der Gesellschaft und deren Teilhabe an Reflexionsprozessen.

Doris Graf geht es um die Menschen, um Identität, um Beteiligung, Reflexion und letztendlich um die Gemeinschaft, denn mit den Piktogrammen am Ende wird unter anderem auch aufgezeigt, was viele verschiedene Menschen miteinander verbindet, bei CityX im Bezug zu einer Stadt und nach einer späteren Analyse vieler verschiedener CityX Projekte vielleicht sogar in der Welt. 
Ein künstlerischer Versuch, den Einzelnen eine städtische Gemeinschaft spüren zu lassen – oder vielleicht sogar in ein paar Jahren den Einzelnen eine Weltgemeinschaft näher zu bringen.

Was man jetzt schon sagen kann, ist, dass man ein CityX Projekt in jeder Stadt weltweit durchführen könnte. Die Kommunikation mit Hilfe einer einfachen Zeichnung funktioniert unabhängig von Sprachbarrieren und jeder, ob jung oder alt, kann sich daran beteiligen.

Die CityX Projekte und auch deren Ableitungen wie z.B. aktuell XPlacesToBe für Bietigheim-Bissingen, folgen jeweils einem mehrstufigen Schema (Phasen 1 bis 5), das kommunikative, performative ebenso wie gestalterische Aspekte gleichermaßen umfasst…
(kursiver Text von Doris Graf)

Hier die 5 Phasen im Überblick:
Phase 1: | Organisation der Zeichenaktionen
Phase 2: | Durchführung der Zeichenaktionen
Phase 3: | Entwicklung des Stadtbilds in piktografischen Bildern
Phase 4: | Herstellung der Kunstdrucke
Phase 5: | Ausstellung:

Das ICH wird zum WIR
Genauso wie die zwei oben hervorgehobenen ganz besonderen Projekte sind auf der Website von Doris Graf die bisherigen CityX Projekte bestens dokumentiert (Übersicht: Arbeit); zu jedem Kunst- oder Projektort findet man hier sowohl die Zeichnungen der Teilnehmer als auch die von der Künstlerin auf der Basis dieses Inputs entwickelten Piktogramme, die wir dann jeweils als eine Art Zusammenfassung begreifen können. Im Oktober werden wir Gelegenheit haben, das künstlerisch ermittelte Wesen von Bietigheim-Bissingen kennen zu lernen.

XPlacesToBe
Analog zum CityX Kunstprojekt wurden bis Ende Juli an einigen Orten der Region Zeichenaktionen durchgeführt. Die Bewohner wurden dazu aufgefordert, sich über ihre Lieblingsorte auszutauschen, an denen sie sich gerne treffen und begegnen. 
Wieder sind gut 800 Zeichnungen entstanden, die Doris Graf nun, wie oben beschrieben, strukturiert und zusammenführt – Phase 3 ist fast abgeschlossen; Phase 4 ist in vollem Gange: Entstehen werden dabei, wir dürfen das schon verraten, insgesamt 8 Kunstdrucke. Nach den Phasen 3 und 4, die notwendigerweise im stillen Kämmerlein der Künstlerin, ohne Öffentlichkeit erfolgen, werden die Werke dann ab 03. Oktober in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen und natürlich auch hier im kunstportal baden-württemberg zu sehen sein, während Doris Graf unermüdlich längst schon die nächsten internationalen Projekte vorbereitet.
Anfragen kommen von überall her. Wie sie mir berichtet, verwahrt die Künstlerin inzwischen über 14.000 Zeichnungen aus vielen verschiedenen Ländern und 255 piktografische Bilder in ihrem CityX Archiv.

Geboren in Krumbach, ist die seit 1995 in Stuttgart lebende Künstlerin also ständig weltweit unterwegs; nicht erst seit CityX – auch schon zu Studienzeiten: Als sehr wichtig beschreibt sie ihr 5jähriges Kunststudium an der Kunsthochschule “Villa Arson”, EPIAR, Nizza, Frankreich; danach hatte sie noch Stationen in Italien und zwischendurch ein Erasmus-Stipendium in London. Nur wenige Künstler(innen) sind so vielfältig auf analogen Wegen global unterwegs.

Und keineswegs nur analog: auch im Digi-Tal kennt sich Doris Graf bestens aus: Neben dem CityX Projekt, das wir zweifellos das (bisherige und ja womöglich nie endende) Hauptwerk von Doris Graf nennen dürfen, wollen wir noch auf einen zweiten wichtigen Bereich ihrer künstlerischen Arbeit eingehen: Sehr intensiv befasste sich die Künstlerin auch mit dem Thema Digitalisierung und v.a. mit dem Thema Internet, das ja einerseits ihr CityX Projekt erst ermöglicht, das sie aber auch kritisch betrachtet:

Die Künstlerin erläutert auf ihrer Website selbst ihre Arbeit und die verschiedenen (Projekte). Intensiv setzt sie sich besonders in den „10er-Jahren“ auseinander mit den Chancen und Risiken des damals nicht mehr neuen, aber gerade durchstartenden Mediums.

Bild oben: “Pikträt” Einzelausstellung anlässlich der Eröffnung der Stadtbibliothek am Mailänderplatz, Stuttgart, Deutschland, 2011

Die Zusammenschau der gerahmten und in Reih und Glied arrangierten Pikträts machen augenfällig, wie sehr die menschliche Individualität allen Persönlichkeitsentfaltungs-Versprechen zum Trotz im Internet auf wenige Fakten zum Zwecke der ökonomischen Verwertbarkeit reduziert wird. (Quelle Ars Electronica). In diesem Kontext spricht die Künstlerin einmal von einer Selbstentblößung der Seele. (s. dazu Hinkelstein Nr. 49 vom 27.07.2025)

Aufgrund ihrer dabei entstandenen Digitalkompetenz und ihrer einzigartigen künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Web wurde sie 2014 berufen in den in den Kreis der „Digital-Heads Of Germany“.

Während wir hier im kunstportal-bw in unserer Hinkelstein-Serie ja sehr stark die Gefahren der Digitalisierung (Kontrolle, Totalitarismus etc. ) in den Vordergund stellen, sieht die Künstlerin Doris Graf aus ihrer ebenfalls kritischen Sicht der Entwicklung unseres Mediums weiterhin die (auch meinerseits unbestreitbar vorhandenen – was wäre das kunstportal-bw ohne Internet?) Vorteile als überwiegend an; so schreibt sie mir: „Das Web hat uns auch viele positiven Errungenschaften ermöglicht: Weltweiter Austausch Kunst, Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, digitale Bibliotheken, CityX übrigens wäre ohne Internet nicht möglich.“

Damit erinnert uns Doris Graf an Peter Weibel, der ja das Zusammenführen von Kunst und Wissenschaft als seine Lebensaufgabe betrachtet hat:

Wenn die Künstlerin dabei, wie sie selbst formuliert, das ICH zum WIR (re-?)transformiert , so entsteht etwas Neues.

In der reduzierten Form von Doris Grafs Piktogrammen wird das WIR im ICH erkennbar; in einer Zeit, in der Internet und Digitalisierung uns Menschen reduziert (und dekonstruiert?) auf verwertbare Datensätze, führt Doris Graf die Teile neu zusammen: Es entsteht eine kollektive Identität und dazu eine (digital-) zeitgerechte Adresse, wo wir unsere Gemeinschaft erkennen können – dazu hat Doris Graf ihre eigene Kunstform entwickelt:

CityX

Jürgen Linde im August 2025