Ein Stück Licht aus der Sonne – über Christiane Latendorf

Christiane Latendorf im Internet:

www.christiane-latendorf.de
Mail: info@christiane-latendorf.de

Angefangen hat alles ganz gewöhnlich: “Ein ganzes Leben” heißt das Bild von Christiane Latendorf, das ich im Oktober 2002 erhalte von der Galerie Hofmann+Kyrath.

Christiane Latendorf, Foto: privat

“Ein ganzes Leben” ist eines von 12 Bildern, die wir zur Ausstellung “Café Obermaier“ (noch bis 11. Januar 2003) erhielten: Fabeltiere, Phantasiewesen füllen das Bild, eine eigene Welt aus Farbe und Bildern weckt Assoziationen, die mir vertraut erscheinen – und die ich doch nicht formulieren kann.
Ein Phänomen, das uns nicht neu ist: immer wieder sind wir in unserer Serie der KünstlerInnenporträts gemeinsam auf der Suche nach den “Grenzen der Sprache“: was kann, was tut die Bildende Kunst, das die Sprache nicht kann oder das wir sprachlich nicht auszudrücken vermögen?
Auch wenn uns die Logik sagt, daß wir diese Grenze ja quasi per Definition nicht verbal werden beschreiben können, so bleibt doch spannend, zumindest die Richtung zu suchen, die Felder zu benennen, in denen wir suchen können oder sollten.

Philosophen sprechen hier gerne von Metaebenen, von Bezugssystemen also, die vor oder oberhalb der sprachlichen Kommunikation liegen, die der Sprache somit vorausgehen oder auch deren Grundlage bilden könnten.

“Ein ganzes Leben”, 1994; Öl auf Karton, 87 x 61,5 cm | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Kern – und meines Ermessens, auch das Problem mit der Sprache – sind die Begriffe, mit denen Dinge/Bedeutungen eingegrenzt werden. Was die Sprache aber somit begrifflich nicht erfasst, wird zwangsläufig ausgegrenzt, kommt nicht mehr vor in unserer rationalen Welt, ist unserem Denken und schließlich auch unserer Wahrnehmung entzogen.
Mit der Formensprache des Märchens erschafft Christiane Latendorf eine sinnliche Brücke zu diesen sprachlich unerreichbaren Dimensionen. Märchen ist die eine Assoziation, die sich uns angesichts der Kunst von Christiane Latendorf aufdrängt; die andere ist Afrika:

Viele Elemente in Christiane Latendorfs Bildern erinnern an die traditionelle Kunst Afrikas, den Kontinent, der mir – da ohne eigene originäre Schriftsprache – ohnehin für die Thematik Kunst/Bilder außerordentlich interessant erscheint.

Die Überlieferung, die Vermittlung von Identität konnte hier nicht beschränkt werden auf die Schriftsprache, sondern war angewiesen auf die lebendige Vermittlung von Generation zu Generation. Dies beinhaltet die Chance, daß sprachlich nicht erfaßbare Bedeutungsinhalte länger überliefert werden konnten.

“Unterer Ramudschin”, 2002; Scherenschnitt und Zeichnung | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Der Aspekt der mündlichen Überlieferung verbindet übrigens die afrikanische Tradition mit dem europäischen Volksmärchen: “Zum Begriff des Volksmärchens gehört, daß es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist“ (Max Lüthi: Märchen, Sammlung Metzler 1962/74, Seite 5).
Als ich Christiane Latendorf bei der Vernissage kennenlerne, bestätigt ihr Äußeres ein wenig die Assoziationen (Märchen, Magie, Afrika), die sich bei mir angsichts des “Ganzen Lebens“eingestellt hatten. Mit einem orientalisch anmutenden Hut erscheint sie wie eine Prinzessin.

In einem späteren, längeren Gespräch erzählt Christiane, wie sie vor einiger Zeit fünf kleine Stockenten aufgenommen hat, die wohl ihre Mutter verloren hatten. Bei zweien davon waren die Flügel zu schwer, so daß sie nicht hätten fliegen können. Der Kurator des Zoos, bei dem sich Christiane Rat holt, empfiehlt, die Tiere zu töten oder die Flügel zu stutzen.

“Medrukta”, 2002; Scherenschnitt
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Christiane aber bindet die Flügel zurück und setzt die beiden Enten auf Diät, bis sie schließlich alle fünf (flugfähig) freilassen kann. Daß die beiden von ihr geheilten Tiere noch mehrmals kurz zurückkommen, überrascht mich jetzt schon nicht mehr.
Seit zwei Jahren wohnt bei Christiane die Saatkrähe Hans, die sich mit Christiane sehr gut versteht. Hans ist blind auf einem Auge und kann den linken Flügel nicht nutzen.

Christiane Latendorfs reale Geschichten klingen wie Märchen.
Max Lüthi, einer der wichtigsten Theoretiker des Märchens, spricht von der Eindimensionalität des Märchens (Max Lüth: Das europäische Volksmärchen; Francke Verlag Bern, 1974; S. 13-25): die Trennung zwischen Diesseits und Jenseits ist im Märchen aufgehoben; „die Menschen des Märchens, Helden wie Unhelden, verkehren mit diesen Jenseitigen, als ob sie ihresgleichen wären. ….Ihnen fehlt das Erlebnis des Abstandes zwischen sich und jenen anderen Wesen.“

“Land Unter”; Dresden 2002; Scherenschnitt und Zeichnung | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

(Dem Held des Märchens) “fehlt das Gefühl für das Absonderliche. Ihm scheint alles zur selben Dimension zu gehören. Es beruhigt ihn sogar, wenn ein wildes Tier zu reden anfängt, denn vor dem wilden Tier empfindet er Furcht: es könnte ihn zerreißen; das redende ist ihm nicht unheimlich.“
Raum und Zeit sind aufgehoben, das “Märchen verzaubert das Ineinander und Nacheinander in ein Nebeneinander. Mit bewundernswerter Konsequenz projiziert es die Inhalte der verschiedensten Bereiche auf ein und dieselbe Fläche“ (a.a.O. , S. 23).

Vor ihrem Kunststudium in Dresden hat Christiane eine Lehre gemacht zur Apothekenfacharbeiterin und danach Pharmazieingenieurwesen studiert. Doch schon während der Lehre spürte sie die Bilder, die in ihr waren und die hinaus wollten.

Nachdem sie sich dann durch das Studium das Handwerkszeug angeeignet hat – während eines Teils des Studiums wurde zwischen Bildhauerei, Malerei und Zeichnen im Dreiwochen-Rhythmus gewechselt – ist sie seit 1997 freischaffende Künstlerin; derzeit lebt sie in Dresden.
Während ich dies schreibe, blicke ich immer wieder auf Christianes Bilder und jetzt glaube ich, dem Geheimnis näher zu kommen: Mit Afrika verbinde ich (die Idealisierung sei mir erlaubt, da sachdienlich) Urwüchsigkeit, Lebendigkeit, das (noch?) Nicht-Entfremdetsein zwischen Mensch und Natur, die Akzeptanz des Todes als Teil des Lebens; Einfachheit und Klarheit.

Christiane Latendorfs Bilder sind einfach und klar,
direkt, aber nicht zurückgenommen,
wesentlich, aber nicht reduziert.
Das ist der Punkt: Reduktion bedeutet ja, vereinfacht gesagt, Überflüssiges (das also erst einmal da sein muß) wegzulassen.

Christiane Latendorf läßt Überflüssiges erst gar nicht zu. Die Wirkung ihrer Kunst beruht auf einer im oben analysierten Sinne “märchenhaften“ Klarheit: die Gleichzeitigkeit diesseitiger und jenseitiger Elemente, die Präsenz verschiedenster Dimensionen auf einer Fläche.

Aus der Philosophie heraus erscheint naheliegend, den Begriff der Mimesis heranzuziehen, der in etwa die Erinnerung an eine vormals vorhandene Einheit und Zusammengehörigkeit bedeutet. Doch während die Philosophie mit hochabstrakten Überlegungen hier mehr Fragen aufwirft als Antworten andeutet, gelingt es der intuitiven Märchenerzählerin Christiane Latendorf mit ihrer Kunst Klarheit zu schaffen: (nicht sprachlich, sondern)
sinnlich.
Unerklärbares bleibt also unerklärbar. Um so schöner, wenn wir es trotzdem erleben – wir hoeln uns

ein Stück Licht aus der Sonne.
Jürgen Linde, im Dezember 2002