Supernatural. Visionen des Körperlichen in der Gegenwartskunst

Beitrag von Dr. Nicole Fritz, Direktorin und Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen. Vorwort zu ihrer noch bis 07.03.2021 laufenden Ausstellung “Supernatural“.

Dr. Nicole Fritz,, Direktorin und Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen
© Foto: Nicole Fritz,.

Im Sommer 2018 zeigte die Kunsthalle Tübingen in Kooperation mit dem Institut für Kulturaustausch die Ausstellung Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst. Diese präsentierte einen Überblick der hyperrealistischen Bewegung von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Die darin gezeigten skulpturalen Werke von Gegenwartskünstlerinnen und Gegenwartskünstlern, wie beispielsweise Patricia Piccinini oder auch Ron Mueck, führten verstörend vor Augen, dass die Grenzen zwischen dem menschlichen Körper und der Technik in unserem posthumanen Zeitalter fließend und der Mensch in seiner jetzigen Gestalt selbst manipulierbar geworden ist. Vor allem die Werke, die Zukunftsfragen berührten, bewegten das Publikum damals besonders und entfachten viele Diskussionen über die Entwicklung des menschlichen Selbstverständnisses.

Vielen Besucherinnen und Besuchern wurde angesichts der Ausstellung erst bewusst, dass der Mensch mit Hilfe der Biogenetik zukünftig in der Lage sein wird, alles Lebendige – die Natur, die Tierwelt und die Ebenbilder des Menschen – existentiell zu verändern. Wie werden die Körper der Zukunft aussehen? Wer oder was werden wir sein? In welcher Umwelt werden wir leben? Ausgehend von diesen Fragen, die das Publikum uns stellte, habe ich damals beschlossen, das Thema fortzuschreiben und die Gegenwartskunst unter dem Motto Supernatural. Skulpturale Visionen des Körperlichen nach der Zukunft der Körperlichkeit im Zeitalter des Anthropozäns zu befragen.

Durch die Coronakrise hat unsere Fragestellung und damit das Thema der Ausstellung nochmals eine neue Aktualität erfahren. Entsprechend unseres Obertitels “Supernatural” hat sich das Überwirkliche bzw. das Unsichtbare auf eine für uns alle unerwartete Art und Weise – nämlich in Form eines Virus – gezeigt. Während das gesellschaftliche Leben vollständig zum Stillstand kam, hat der menschliche Körper als Schnittstelle menschlicher Weltbeziehung durch die Pandemie dagegen eine regelrechte Renaissance erfahren und ist der in den westlichen Industriestaaten diagnostizierten “Leibvergessenheit” (Gernot Böhme) zum Trotz in den Fokus gerückt. Die körperliche Distanz, die das Virus erzwingt, führt paradoxerweise gleichzeitig auch zu einer neuen Achtsamkeit, da wir unsere Körper täglich bewusst mit gebührendem Abstand im öffentlichen Raum manövrieren müssen.

Infolge der globalen Pandemie hat der Körper heute als Instanz der Selbstvergewisserung nicht nur eine größere Bedeutung bekommen. Wir haben in den letzten Monaten vielmehr auch sprichwörtlich am eigenen Leib erfahren, dass sich unser Verständnis der Welt und von uns selbst derzeit tiefgreifend verändert. Es ist mittlerweile überdeutlich, dass die Umweltzerstörung und die Möglichkeiten mittels digitaler Technik und Gentechnologie den Körper innerlich und äußerlich zu erfassen, ihn zu manipulieren und zu verändern, auch einen nachhaltigen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Menschen haben werden. Werden wir angesichts humanoider Roboterwesen erst erkennen, was den Menschen wirklich ausmacht, wie die KI-Experten Dr. Manuela Lenzen und Holger Volland in ihren Essays vermuten? Werden wir die humanen Fähigkeiten wie Empathie, Fantasie und Intuition zukünftig als menschliche Alleinstellungsmerkmale bewusst entwickeln oder es zulassen, dass unser psychisch-mentaler und emotionaler Resonanzraum schwindet und wir selbst zum fremdbestimmten Roboterwesen mutieren? Der seelenlose Cyborg Andro Wekuas und die sensiblen, der Natur zugewandten Selbstporträts Fabien Mérelles markieren die beiden gegensätzlichen Pole des in der Ausstellung Supernatural mittels hyperrealistischer und realistischer Skulptur entfalteten Themenfeldes.

Isa Genzken: Schauspieler III, 3, Detail, 2015
Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Axel Schneider, Frankfurt
Ausstellung “Supernatural“in der Kunsthalle Tübingen | 10.10.20 – 07.03.2021

Die über zwanzig Werke von Künstlern aus elf unterschiedlichen Ländern der Welt sind nach den Themen Technik-Mensch-Metamorphosen, Hybrid Others, Post-Nature und Künstler 4.0 gruppiert. Entstanden ist ein aufrüttelnder und teilweise auch verstörender Parcours, der einem im wahrsten Sinne des Wortes “unter die Haut” geht und anregt, sich mit den Fragen unserer Zeit anhand posthumaner Skulptur auseinanderzusetzen.

Dr. Nicole Fritz
Direktorin und Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen