Die Frauen als die Starken – über den Roman ‚Was Nina wusste‘ von David Grossman

Buchtipps von Uli Rothfuss im kunstportal-bw

Vorweg: Wenn man diesen Roman ganz liest, dann und vielleicht erst dann präsentiert er sich dem Leser als einzig-, als ganz und gar großartig. Aber der Reihe nach, und da fängt es bei diesem Roman schon an, schwierig zu werden – ein der Reihe nach gibt es in diesem Buch kaum, eher ein übereinander Lagern verschiedener Geschichten. Und das ist es, was der große israelische Romancier David Grossman beherrscht wie kaum ein anderer. Er erzählt Geschichten in einer Geschichte, die sich verdichten und schließlich in Erkenntnissen kulminieren, die kaum jemand erwartete.

Hier die Geschichte der Protagonistin Vera, ihrer Reise mit der Enkelin Gili und der Tochter, der Mutter von Gili, Nina, zurück ins alte Jugoslawien, das auch schon lange Geschichte ist, wo sie, die junge Jüdin, aufwuchs, ihren Mann, einen Serben, heiratete, schließlich in Titos berüchtigem Umerziehungslager auf der Insel Goli Otok landete, absurdeste, erniedrigende Situationen erlebte, der Mann umgebracht vom Regime, die Tochter, ungewiss wo sie blieb, die verantwortlichen Schergen im Lager spielen grausam mit ihren Häftlingen scheiß Schicksal – wie es in jedem diktatorischen Regime geschieht, ja, bis heute.

Aus den sicheren Umständen, später, in Israel, heraus der Plan, diese früheren biografischen Stätten zu besuchen und darüber die Beziehungen in der Familie zu klären. Die der Tochter, Nina, die nie mehr zur Ruhe kam und rastlos in der Welt herumirrt, zur Mutter, zur eigenen Tochter, Gili; die der Tochter, Gili, zur Mutter, aber auch zum Vater, zur Großmutter, Vera. Ein Geflecht, das sich erst in der existentiellen Erfahrung der Konfrontation mit den Resten des Lagers auf der Insel, der Gefangeneninsel, zu lösen beginnt – in jedem Einzelnen der Reisenden, und in dem Verhältnis untereinander. Es sollte ein Film der Erinnerungen entstehen, auf dieser Reise; am Schluss versinkt dieser im Meer, was bleibt, sind die Worte von Gili, die diese tagebuchartig auf der Reise notiert, akribisch beinahe. Eine Annäherung in Worten an die Urgründe der Familienbeziehungen, die alle mit dem Großdrama des Jahrhunderts, der jüdischen Identität, der Verfolgung, der Ermordung der Juden zu tun haben.

Der Autor, David Grossman, ist einer der wenigen Autoren, die es beherrschen, den Eindruck sehr konventioneller Erzählweise zu geben, dabei aber subtil Stilmittel hereinzuholen, die klassische Erzählstränge brechen, sie in unterschiedliche Ebenen verzweigen, um sie dann wieder aufzugreifen und den Leser so mit einem Rahmen auszustatten, der gestattet, die Geschichte zusammenzuführen aus Erinnern heraus aus der Vergangenheit, sattem präsentem Erleben, deutlich gemacht auch an der Urgewalt der Naturgezeiten, und ganz feinfühlend in die Zukunft zu führen, eine Ahnung zu geben, wohin diese Geschichte der durch die Historie gebeutelten Familien führen kann.

Sehr interessant, dass die Hauptcharaktere in diesem Roman ausschließlich Frauen sind, der Mann, der Vater von Gili, ist nicht mehr als Staffage. Die Frauen als die Starken, die die Familie durch die Zeiten führten. Vera, die über 90jährige, die sich auf die lange Reise macht, und die alle Details erinnert, als Prototyp der starken Patriarchin – die sie, kommen die Erinnerungen dann, so gar nicht ist; eher die Frau, die da hineinwächst. Es scheint das jüdische Leben auf dem Balkan vor dem Krieg auf, das allein schon wert, kennenzulernen. Das Leben zur Zeit des Generals Tito im kommunistischen Jugoslawien, und der ältere Leser fühlt sich an Kinderzeit erinnert, als manches über das damalige Jugoslawien erzählt wurde, wohin immerhin Urlaub möglich war. Im Roman scheint bereits auf, dass das Zusammenleben der Völkerschaften ein künstliches, zusammengezwängtes war. Und dass jüdisches Leben immerhin eine Rolle spielte.

Es ist ein Roman, der sich nicht sofort erschließt. Der aber gleich durch seine Sprache in Bann schlägt, und der ein Panorama aufschlägt, das den Leser eintauchen lässt in Fremdes, als würde er es lange kennen. Über die Geheimnisse der Familie entspannt sich ein Drama um Liebe und Vergebung, das exemplarisch stehen kann für die Bereitschaft von uns allen, Nähe einzufordern und zugleich zu gestatten.

David Grossman: Was Nina wusste. Roman, 352 S., Hanser Verlag, München 2019, 25,- €