Der Fremde aus Paris, Roman von Isabella Hammad

Buchtipps von Uli Rothfuss im kunstportal-bw

Nahost, Palästina und beeindruckend erzählte Familiengeschichte in Nablus

Die Geschichte einer Familie, zugleich die Geschichte des Großvaters der Autorin, dem sie mit dem Roman, diesem Monumentalgemälde des palästinensischen Umbruchs in der Zeit des Ersten Weltkriegs und danach, ganz persönlich ein farbenfrohes Erinnerungsbild setzt: diesem Midhat Kamal, dem Wanderer zwischen den Welten, der uns, mich, den westlichen Leser, einführt in das Werden des heutigen Nahen Ostens, in die Irrungen, Kämpfe, in die Gewalt, aber auch in die inneren Bereiche des  Familienlebens palästinensischer Araber, in die Auseinandersetzungen um die jüdische Besiedlungspolitik der Briten, in das Nebeneinander mit Christen, die Krankenhäuser betreiben, mit dem französischen Pfarrer Antoine, der ein Buch über Nablus schreibt.

Über 700 Seiten Sittengemälde und Entstehungsgeschichte der heutigen Ordnung oder Unordnung des Nahen Ostens, geschüttelt durch die Interessen der größeren europäischen Mächte, der Türken und Deutschen zunächst, dann der Franzosen, der Briten, die alle ihre Interessen hatten und zur Zeit ihrer Herrschaft durchsetzten. Das Nachsehen hatten die Araber, die wiederum sich aufteilten in Syrer, in Palästinenser, in Iraker und mehr. Träumten lange vom großsyrischen Reich, vereinigtes Ostarabien, ein Traum. Blieb der Rückzug ins Private, ins Familiäre; und der wachsende, bewaffnete Kampf gegen die Usurpation der Großmächte, des Landes durch die massenhaft und durch die Briten gelenkt einwandernden Juden.

Wäre da nicht die Vergangenheit des Protagonisten Midhat, der vom als Textilhändler zu Reichtum gekommenen Vater, mit Geschäften in Nablus und Kairo, noch zur Zeit der Anfänge des ersten Krieges nach Europa, Frankreich, Montpellier, geschickt wird, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Und der junge, sehr junge, Midhat, geht das Studium mit viel Begeisterung an, zugleich stürzt er sich in eine erste Liebe mit Jeanette, der Tochter seines Hausvaters Dr. Molineu. Eine Liebe zwischen Distanz und nächster Nähe – gepaart mit genauester Beobachtung Midhats seiner Umgebung, die er mit dem fremden Blick ertastet – und uns, Leser, daran teil haben lässt, uns so ganz en passant einen Blick in das Montpellier der ersten Kriegszeit erlaubt; einer Zeit, an einem Ort, weit genug weg von Paris, von den Orten des Kriegsgeschehens in Frankreich, in der die höhere Gesellschaft noch mit Champagner und Hausmusik feiert, das Donnergrollen des Krieges höchstens von ferne herüberhallt durch Briefe der jungen Männer, die an die Front geschickt wurden und zum Teil in den eiskalten Schützengräben dahinvegetieren.

Spannend gestaltet die Autorin die Rückkehr von Midhat nach Palästina, sein fortwährendes Misslingen der Integration in die arabische Gesellschaft; er bleibt fortan der „Pariser“, mit Extravaganzen, die er pflegt; die Entdeckung des Briefes von Jeanette, Jahr später, den sein Vater ihm verheimlicht und versteckt hat, wirft ihn aus der Bahn. Löst ein Trauma aus, der Psychologe weiß, Traumata können Verdrängtes freisetzen, Illusionen, Bilder von Träumen Realität werden lassen, wegtreten lassen aus dem Leben im Täglichen. Midhat wird hospitalisiert, zuerst bei den christlichen Schwestern, und als keine Besserung auftritt, in einer Anstalt der Briten in Betlehem – wo alles nur um ein Vielfaches dramatischer ist. So, abgeschottet von der Welt, von den Vorgängen um die Anstalt im brodelnden Palästina, in dem von der Seite der Araber Generalstreik ausgerufen ist, fast alle Männer, von jung bis alt, in den bewaffneten Kampf verstrickt sind, so verliert sich unser Protagonist in seinen Träumen, sehnt sich zurück nach Frankreich, ins Haus Molineu in Montpellier, in die Diskussionsrunden mit den arabischen Exilanten in Paris, in die Vorlesungen der Sorbonne, wo er Geschichte und Politik hört.

Hin- und hergerissen zwischen West und Ost, in der Erinnerung, in lebhaften Traumbildern die offene, die zugewandte junge Französin, im Leben Fatima, auch eine Frau, Araberin, verschleiert, mit neugierigen Augen, die ihm zugeteilt wird von der Großmutter, er wehrt sich, gibt schließlich nach, nachdem er sie als Zuschauerin bei den ersten Aufständen erblickt, willigt in die Heirat ein. Kauft ein Haus, baut – mehr unlustig, aus Pflichtbewusstsein denn aus Leidenschaft, eine Familie, ein, nächste Enttäuschung, nach dem Tod des Vaters erkennt er, dass er weitgehend enterbt ist, eigenes Geschäft auf, bis eben der Brief auftaucht, der Brief von Jeanette, der ihn unmittelbar nach seiner Ankunft in Palästina hätte erreichen, zur Umkehr veranlassen sollen.

Midhat schafft den Absprung nicht. Die Bande der Familie, der Großmutter, der Frau, die Bande der Aufständischen, halten ihn; akzeptieren, dass er sich teilweise in seine Erinnerungen igelt. Kein Ausgang für Midhat wie für das Palästina der Palästinenser: allein gelassen von allen Seiten, um sich selbst kreisend, und daraus keinen Ausgang mehr findend. Die Autorin hat hier eine seltsam schwebende Allegorie gefunden, die uns mit einem langen Nachdenken entlässt.

Gekonnt, gerade für diese junge Autorin, sehr stringent erzählt, vielschichtig und die Charaktere vieldimensional gezeichnet, und doch die großen Linien der Nahost Geschichte anmutig in diese Familienvorkommnisse hineingetragen. Es ist ein großes Erzähldebut.

Isabella Hammad: Der Fremde aus Paris. Roman. Geb., 736 S., Luchterhand Literaturverlag, München 2020, 24,70 €.