Office Works – Interview von Nicole Fritz mit Karin Sander

Karin Sander, © Foto: Michael Danner, Kunsthalle Tübingen


NF: „Office Works“ nennst du eine Werkgruppe, die in den letzten dreißig Jahren kontinuierlich entstanden ist. Für diese Publikation hast du die über tausend Blätter jetzt zusammengetragen. Was verbirgt sich hinter dem Titel dieser Zeichnungen, bei dem sich doch zunächst Assoziationen an alltägliche Routinearbeiten am Schreibtisch einstellen?

Karin Sander: KS 2003 6 NZ, 2003
Büroklammern, Velinpapier; 21 × 29,7 cm
Courtesy of Esther Schipper, Berlin
© Studio Karin Sander, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

KS: Der Titel verweist auf Prozesse und Materialien, die in jedem Office, in jedem Büro vorkommen. Damit zu arbeiten erschien mir naheliegend, insbesondere weil sich so auf einfachste Weise die Frage stellen lässt: Was ist das für ein Ort? Welche Vorstellungen sind mit ihm verbunden? Man könnte zum Beispiel auf die Idee kommen, dass ich als Künstlerin nie im Büro sitzen würde, oder besser noch: als sei das Künstlersein mit dem Versprechen verbunden, niemals in einem Büro zu landen. Der künstlerische Schreibtisch ist ein Ort konzentrierten Arbeitens, an dem Konzepte gemacht und verwaltet werden. Wo wäre ich, könnte ich meine Gedanken nicht ab und zu mit einer Heftklemmer ordnen. Metallene Heftklammern oder auch Büroklammern sind sehr feine Drahtgebilde, die als dreidimensionale Linien auf dem Papier sitzen, es durchstoßen und dabei Dinge fixieren.

Es sind aber auch Papierstücke, Klebebänder, Wischtücher, Schnipsel, die ihre speziellen Eigenschaften oder, wenn man so will, ihren Eigensinn am Arbeitsplatz demonstrieren und auf je spezifische Weise einen Vorgang, eine bestimmte Zeit und Funktion repräsentieren.

NF: Kannst du dich noch an deine ersten „Office Works“ erinnern? Wie kam es dazu, den künstlerischen Prozess auf die Routinearbeit am Schreibtisch auszuweiten?

KS: Genau um diesen Begriff Routine geht es, nämlich darum, ihn zu demontieren und gleichzeitig erneut einzusetzen. Ich fange immer mit einer bestimmten Idee oder Vorstellung an, und dieser entspringen andere, denen wiederum weitere folgen. So oszillieren die Szenen auf den Blättern, springen von einer Ebene auf die nächste. Ich versuche hier ganz offen vorzugehen. Alles darf möglich sein. Es gibt keinen Anfang und kein Ende, es entstehen immer wieder neue Inszenierungen auf einem einfachen Blatt Papier, die alle ihre eigenen Geschichten erzählen.

NF: Der Schreibtisch, das weiße Blatt Papier sind mythisch aufgeladene Dinge, die man gemeinhin mit der Arbeit von Schriftstellerinnen in Verbindung bringt. Nicht selten wird der Schreibtisch als magischer Ort überhöht, an dem Autorinnen imaginäre Welten bereisen. Was bedeutet der Schreibtisch für dich als Künstlerin?

KS: Man könnte diese Papierarbeiten durchaus als beschriebene Seiten verstehen und hier eine Analogie zum Schreiben herstellen. Die Blätter bilden mitunter fortlaufende „Sätze“, Erzählungen, sie enthalten Überlegungen, Referenzen, Archive. Am Schreibtisch werden sie „zu Papier gebracht“. Hinzu kommt, dass das Homeoffice im Zuge der Pandemie zu einem viel diskutierten Ort geworden ist, sodass meine Arbeiten nochmals eine ganz andere Lesart bekommen können.

NF: Welche Rolle spielen die „Office Works“ in deinem künstlerischen Prozess? In welchem Verhältnis stehen sie zu den anderen Werkgruppen: Skulpturen, Bilder, Installationen etc.?

KS: Sie helfen mir beim Denken. Sie können Ideen und Überlegungen unmittelbar und sehr schnell transportieren. Sie sind Teil meines Arbeitsprozesses, auch wenn sie sich nicht konkret auf ein bestimmtes Projekt beziehen, sie sind keine Skizzen für eine bestimmte Arbeit und doch haben sie viel mit meiner Arbeit zu tun.

NF: Wie regelmäßig entstehen diese Papierarbeiten? Entstehen sie zwischendurch als „Pausenfüller“ oder stehen sie doch manchmal, wie klassische Bildhauerzeichnungen, am Beginn eines neuen Projekts? Gibt es einen Auslöser, bestimmte Papiere, Stifte, die dich veranlassen, damit in einen Dialog zu treten? Und welche Rolle spielt der Zufall dabei?

KS: Meistens entstehen die Blätter, wenn ich an einem Ort ankomme, wo auch immer das sein mag, oder wenn ich wieder zurück bin in Berlin. Sie sind Erweiterungen alltäglicher Praktiken, Entgleisungen der Normalität, des Gebrauchs, die jedoch für die Betrachterinnen nachvollziehbar bleiben, weil ihnen das Ausgangsmaterial, aus dem sie gemacht sind, vertraut ist. Gefundenes und Vorgefundenes, Verschiebung, Fehlplatzierung, Verletzung, Experiment und technische Erfindungen sind Teil der Arbeit und werden im Arbeitsprozess ständig weitergeführt. Wenn also eine dünne, rote Plastiktüte unterhaltsam vor sich hin raschelt, wird sie durch die ordnende Fixierung mit kleinen, kurzenHeftklammern zur E-Musik.

Karin Sander: KS 2012 7, 2012
Kugelschreiber, Heftklammern, Papier; 21 × 29,7 cm
Courtesy of Esther Schipper, Berlin
© Studio Karin Sander, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

NF: Besonders gut gefallen mir die Arbeiten, bei denen du die pure Materialität des Papiers zum Thema machst. So können Papiere unterschiedliche Eigenschaften haben, liniert, kariert oder gerastert bedruckt sein. Darüber hinaus registrieren sie jeden Handgriff und speichern nicht zuletzt in Form von Knicken und Gebrauchspuren auch die Zeit. Bist du mit der Werkreihe selbst sensibler für derartige Alltagspuren geworden?

KS: Mit den Tackernadeln, Büroklammern, Gummiringen usw. und den gewissermaßen interdisziplinär eingesetzten Materialien wie beispielsweise Papier fließen Gebrauchsspuren und Fragmente des Alltags als mediale Größen in die Arbeiten ein. Dabei versuche ich jedoch immer, dem Greifbaren, Naheliegenden, Vorhersehbaren, Benennbaren, einer eingeübten Routine entgegenzuwirken und meine eigenen Regeln immer wieder zu durchbrechen, sofern nicht gerade das wieder zur Routine geworden ist und wiederum einen Gegenentwurf erfordert.

NF: Auf den ersten Blick erscheinen die „Office Works“ aus Büroutensilien minimalistisch und ohne „emotionalen Kick“. Bei genauerer Betrachtung jedoch überraschen der Variantenreichtum und die beinahe musikalischen Akkorde, die entstehen. Es gibt Blätter mit ganz freien, spielerischen Strichzeichnungen aus „Locherpunkten“ – wie du die mit Lochern ausgestanzten Papierkreise nennst –, die wie Blumen auf einem Blatt tanzen, und dann wieder ganz strenge, minimalistische Heftklammersetzungen. Wenn man die Blätter jetzt als Konvolut, das einen großen Zeitraum umfasst, vor sich sieht: Scheint es nur mir so oder spiegeln sie nicht doch auch persönliche Befindlichkeiten, also deine emotionale Verfasstheit wider und sind damit nicht zuletzt auch Ausdruck deiner inneren Realität?

KS: Ich kann mich an jedes dieser Blätter erinnern, auch wo und wann sie entstanden sind, und so spiegeln sie für mich vor allem die Orte wider, die Umgebung, den Kontext. Die Orte scheinen in gewisser Weise durch die eingesetzten Materialien und ihre Verwendung hindurch. Und meine eigene Verfasstheit zu einem bestimmten Zeitpunkt spielt da sicher mit.

NF: Haben sie so etwas wie einen Tagebuchcharakter oder sind sie sogar so etwas wie ein Vermächtnis auf Papier? Dürfen wir so weit gehen? Was bedeuten sie dir ganz persönlich?

KS: Sie entstehen in bestimmten Zeiträumen und beschreiben Vorgänge oder Überlegungen in einer Direktheit und Schnelligkeit, die nur durch diese einfachen, direkten Mittel möglich sind. Wenn man sie in Gruppen oder in ihrer Gesamtheit sieht, ergeben sich Themen, Zyklen, Variationen und Partituren. Sie laden sich gegenseitig auf und werden zu einem orchestralen Ganzen. Vielleicht sollte das tatsächlich mal in eine Partitur transkribiert und als Musikstück gespielt werden.

KS 96 50, 1996 (Detail), © Kunstmuseum St. Gallen. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Bildbearbeitung: Wolfgang Gießler

NF: Viele deiner „Office Works“ befinden sich heute weltweit in privaten und öffentlichen Sammlungen. Wann hast du bemerkt, dass sie einen ganz besonderen Reiz auf Betrachterinnen ausüben? Erinnerst du dich vielleicht an eine Anekdote, eine spezifische Begebenheit?

KS: 1992 hatte ein Besucher einige Blätter in meinem Atelier entdeckt. Mit der Hand glättete er vorsichtig ein nachlässig entstandenes Eselsohr an einem Blatt und sagte: „Schade!“ Er borgte sich die Blätter aus und arbeitete nächtelang an einer Ordnung, bildete Themen, Analogien und Sequenzen aus unterschiedlichen Jahren, die meine Überlegungen präzise fortsetzten. Das brachte mich dazu, den Anfragen nachzukommen, die Blätter öffentlich zu zeigen und sie für Ausstellungen zur Verfügung zu stellen. Eine Privatsammlung aus München besitzt heute aus jedem Jahr, aus beinahe allen Werkzyklen einige Blätter, die eine ganze „Zeitreise“ dokumentieren.

NF: Möchtest du das Publikum animieren, selbst bewusster mit den alltäglichen Dingen
umzugehen?

KS: Was vordergründig auf den Blättern wiederzuerkennen, zu benennen ist, ist das eine, das andere ist vielleicht eine Art Metaebene, die kognitiv gelesen werden kann.

NF: Wir befinden uns in Zeiten der Digitalisierung, was meinst du, welche Bedeutung die „Office Works“ in ein paar Jahren haben werden, wenn Papier und Aktenordner vielleicht
obsolet geworden sind?

KS: Leere Schreibtische sind mir eher suspekt und mein Schreibtisch ist durch die Digitalisierung nicht leerer geworden. Ja, Löschblätter, Paus- und Linienpapiere sind inzwischen Geschichte und heute bereits museal, so auch viele andere Schreibwaren, die ich verwendet habe. Doch die Anziehungskraft, die beispielsweise eine bestimmte Heftklammer auf mich ausübt – eine besonders kleine aus rotem Kupfer oder eine gewellte silberne, die weniger wackelt –, ist ungebrochen. Für mich ist das Denken mit den Händen, zum Beispiel einen Strich ziehen oder das Schreiben, Tackern auf einem Stück Papier, so wichtig wie die persönliche Kommunikation, das persönlich gesprochene Wort. Ich denke hier eher an Vielfalt und Paralleluniversen.

NF: Sind für dich digitale „Office Works“ denkbar, die nicht auf Papier entstehen, sondern sich in die digitale Ebene verlagern?

KS: Ja, zum Beispiel die Arbeit „Multiple Choice“ aus dem Jahr 2010 funktioniert so. Hier findest du eine Anzahl digital erzeugter, passgenau konstruierter Fragmente. Du kannst sie selbst mit Hilfe einer App auf einem DIN-A4-Blatt kombinieren, dann als digitale Arbeit erwerben, runterladen, sie in deine digitale Sammlung einordnen oder aber auch wieder auf Papier ausdrucken. Die Arbeiten sind rein digital erzeugt.

Dr. Nicole Fritz,, Direktorin und Vorstand der Stiftung Kunsthalle Tübingen
© Foto: Nicole Fritz,.

NF: Für die Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen hast du die „Office Works“ so vollständig wie möglich zusammengetragen und gehängt. Was bedeutet es für dich, die Zeichnungen so umfassend zu präsentieren? Nach welcher Systematik hast du die Blätter gehängt? Welche Erfahrung ermöglichen sie dem Publikum?

KS: Die Blätter sind chronologisch gehängt, im Zusammenspiel verdichten sie sich. Die Inszenierung im Raum macht die Vielschichtigkeit der daran beteiligten Prozesse sichtbar und es entsteht ein umfassender, für die Betrachter*innen vielleicht auch nachvollziehbarer Zusammenhang. Mir geht es dabei um Transformation in eine übergeordnete Lesbarkeit, um eine Zeitreise durch drei Jahrzehnte.