Ein Buch der Unaufgeregtheit. Ein Roman des Ostens

Literaturtipps von Uli Rothfuss

Es ist ein Buch, das mir, mir persönlich, dieses Lebensgefühl der Nachwendezeit im Osten, in Tschechien, ich erlebte es in der Slowakei, wieder vor Augen führt. Und das genau deshalb für mich besonders wichtig ist – und wichtig sein könnte für so viele, die nacherleben möchten, wie sich die Wende, die Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse, gestaltete, da in unseren östlichen Nachbarländern. Ein Buch des Abwartens, des Zögerns, der verzögerten Wahrnehmung, des nicht Trauens, sich nicht, anderen nicht, und all dem neuen aus dem Westen sowieso nicht; es sei denn es sei ein neues Auto. Einerseits das Empfinden eines dahinödenden Ostens, eines Ostens der Plattenbauten, des Bestaunens der vom Westen her invasierenden Touristen, die endlich die Möglichkeit haben, recht barrierefrei zu kommen, zu bestaunen, was im Osten alles brach liegt, die den morbiden Charm der Plattenbausiedlungen, der noch bestehenden kleinen Buchhandlungen und kleinen Cafés in den Hinterlandstädtchen begucken. Das Hin- und Herschwanken im Täglichen, noch Verhaftetsein in der Blockbürokratie, die selbst noch ihre Fühler in die akademischen Bereiche der Universität hineinstreckt. Die kleine Freiheiten erlaubt wie die Vorbereitung der Lehrveranstaltung im Café.

Und das Leben, das Fühlen, das Denken der mittvierzigjährigen Literaturdozentin, frisch geschieden, damit wenig klarkommend, erzählt dieses Buch, die Eltern hat, die der Demenz entgegenlaufen, in ihrem Haus im Dorf irgendwo außerhalb. Die Dozentin, die im Beruf lebt, die aber Träume hat und dem jungen, knackigen Buchhändler im Städtchen nahe des Dorfes der Eltern erliegt, von ihm träumt, seinen Duft atmet, seine jungen Muskeln erspürt. Tja, das alles atmet den neuen Osten der kurzen Zeit zwischen der Wende und dem Heute, der sich annähert dem Westen. Man fährt schon SUV, der bleibt aus der Scheidungsmasse, man fährt mal kurz nach Berlin, um sich zu verlustieren.

Aber: die Themen bleiben die eigenen. Die Vergangenheit streckt ihre Greifer herein ins Heute, die Erinnerungen der Kindheit sind präsent, sie werden, je mehr sich die Protagonistin versucht, zu entfernen, präsent. Es ist nicht spektakulär erzählt, nein, die Geschichte fließt vor sich hin, der Leser wird mitgenommen, zweifellos. Die Gespenster, die Schatten der Vergangenheit greifen herein und verstören die Gegenwart.

Der Autor erzählt unaufgeregt, manchmal könnte man denken, die Langeweile wird gepflegt, sprachlich ausgeformt, sodass sie sich dem Leser doch einprägt, und er im Lesen weitereilt, und doch gibt er einen Eindruck der Abläufe der Gegenwart in Prag, in der tschechischen Provinz, die sich so sehr unterscheiden vom Tempo ein paar Kilometer westlich. Es stellt sich nicht die Frage, ob das sympathisch ist. Im Gegenteil, die Frage ist, wie das vereinbar wird unter einem Dach Europa. Ein Denken, ein Fühlen und letztlich ein Handeln so sehr geprägt von der Vergangenheit, wie kann das konform gehen mit der Geschwindigkeit, mit den hochgesteckten Zielen des Westens, wo letztlich Effizienz und Ökonomie die zu erstrebende Challenge sind. Wo hat da das in Büchern, in Geschichten denken noch Platz? Die Buchhandlung im Städtchen schließt nach dem Sommer, Fingerzeig.

Ein zeitgemäßer Roman, der nicht mitreißt, aber mitnimmt, auf eine Reise durch ein Europa der anderen Geschwindigkeit. Das lohnt!

Jiri Hajicek: Vignetten mit Segelschiff. Roman. Geb., 272 S., Verlag Karl Rauch, Düsseldorf 2021, 22 €.