von Uli Rothfuss
Nehme ich ein Buch in die Hand, drehe und wende ich es erst einmal, betrachte es von allen Seiten. Suche, hier schon, Zugänge: über den Titel, die Schrift, das Umschlagmotiv, den Klappentext, natürlich auch, und wichtig, wie das Buch gemacht ist, die schlichte handwerkliche Qualität. Ins Auge fällt mir in dem neuen, in der Verlagsreihe Lyrik eingereihten Band von Marcus Neuert, das Covermotiv – etwas wie ein vermenschlichter Fisch, auf Fels, große Augen, großes Maul, im Setting gewissermaßen auf dem Sprung, hin zum Betrachter. („Kleiner Wassergeist“ von Hartmut Wiesner, Wilhelmshaven).
Viel Aufschluss über das poetische Konzept gibt das Vorwort von Marcus Neuert. Ich empfehle aber, es erst nach den Miniaturen zu lesen – einfach, um sich nichts vorwegzunehmen an möglichen Individualeinsichten, die ich, der Leser, gewinnen kann, wenn ich diesen lyrischen Miniaturen unvoreingenommen von einer poetologischen Einordnung begegnen kann – insofern wäre vielleicht das Vorwort besser als Nachwort plaziert gewesen; gut 130 Seiten geballte, konzentrierte Poetik steht mir da bevor, Eigenerfahrung konfrontiert mit einer schier nicht mehr überblickbaren Variationsdichte von sprachlicher Ausdrucksfähigkeit, die dieser Autor von Buch zu Buch intensiviert – und perfektioniert. Mir fallen auf – und gefallen – die gnadenlos offenlegenden Bezüge, die der Autor in seinen auf das Wesentliche komprimierten Texten herstellt, über Genres, ja über Disziplinen hinweg, er schöpft offenbar aus einer nicht versiegenden Quelle an Kenntnissen quer durch die Geisteswissenschaften, die einordnen, die oft nur andeuten, Hinweise geben lassen. Das, schon, ist grandios, weil es dem Lesenden nicht nur das Einlassen abfordert, sondern das Zulassen von Bezügen im Kontext, was heißt: er muss sich auf ein geleitet Werden einlassen, dem er sich hingeben kann wie der (oder natürlich die) Genießende beim Akt, ein Hingeben in Bezüge hinein, und vor allem in die Sinnlichkeit der Sprache – die andere großartige Komponente dieser poetischen Miniaturen von Marcus Neuert.
Mir gefallen die nicht in Gedichtformat gebrachten Kurztexte noch mehr als die schon formal als Gedichte erkennbare. Man kann natürlich hier und da widersprechen – inhaltlich, natürlich, Literatur fordert zum Widerspruch, zur Widerrede, z.B. beim Statement im Kurztext „bin gescheitert“ – was ja für einen Autor ein ständiges Thema bedeutet, die Auseinandersetzung mit Sichtweisen, das individuelle Positionieren. Das, ja, ist überspitzt, und gerade das darf, muss, soll Literatur, es hat sicherlich einen Kern Wahrheit, ohne dass man unvoreingenommen zustimmen müsste. Es sind Texte, die einnehmen. Die Position beziehen lassen, die diese Position einfordern. Manche Texte lese ich wieder und wieder, um sie begreifen zu können, um sie zu be-greifen, fast schon im konkreten, haptisch anfassbaren Sinn, wenn ich das Buch fest in der Hand halte, manchmal gar mit den Fingern über die Zeilen streiche, um sie geradezu anzufassen.
Marcus Neuert ist mit seinen Miniaturen auch ein Kommentator der Zeit – der Vorgänge, die Menschen bewegen, auch den Autor, ihn; und natürlich muss man, Leser, nicht immer einer Meinung sein – wenn er z.B. vom „seuchentheater“ spricht, das zu inszenieren ist, oder Merkels Postulat davon, dass wir das schaffen, persifliert wird; nein, das müssen wir nicht goutieren, wir müssen nicht Beifall klatschen dem Autor, wir dürfen auch widersprechen, wir dürfen, vielleicht müssen, wenn es für uns wichtig ist, unsere Position deutlich machen – herausgefordert durch solche Statements, die uns unsere Haltung deutlicher machen lassen. Was mich zutiefst berührt, ist eben die Position gepaart mit einer höchst differenziert, poetisch konzentrierten Sprache, die schlichtweg „mitnimmt“, die uns auffordert, und zwar jeden einzelnen Leser, sich zu positionieren, Haltung einzunehmen. Ein anderes Lesen der Miniaturen gibt es nicht. Man könne sich so, schreibt Neuert im Text „krisengespraech“ – hinterher das geschrei sparen. Wie wahr. Eigentlich eine Binsenweisheit: erst einmal überlegen, Position aufgrund von Auseinandersetzung beziehen, verhindert Geschrei und Bereuen, Weinen.
Der Autor wird mitunter auch noch konkreter, wohl auch aus ganz individueller Erfahrung. Mit Gütersloh, z.B. – fort fort aus gueterlsoh, schreibt er, wo es das „ehrlos gute, das auskömmliche, das hier/ rendite schafft“ sei; oder hessisch-sibirien: „nass. eng. braun. hessisch. ..“
Mir nahe, sein Text „europaeisch sein: ein poesieraussch“: „stets un peu ironiesachse et un peu francais“; viele aspekte heiße europäisch zu sein, die meisten ironisch – auch, „seine eigentliche ursache in poesie zu sehen“: das nun lässt überlegen, immerhin etwas kulturelles als Europa definierend. Und man kann über die Conclusio streiten: „europäisch sein allein verpflichtet. leider zu rein gar nichts.“
Oder, um mit dem Opa im Text „krisengespraech“ zu sprechen: schnaps kriege er trotzdem noch … und pfeift sich prekaer sechs gin rein. Ja, auch das kann mal helfen. Oder, nach dem Motto „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?“ – vornehmer im Text „aussenterrasse“, angesichts „laengst sind alle infekte erloschen …“ – die Aussage: welchem klischee froenten wir noch gleich? vergessen.
Ja, wie sehr sie alle auf das Vergessen setzen; auch dafür werden mir in diesen Texten immer wieder die Augen geöffnet. Deshalb hat Marcus Neuert hier – auch – einen immens gesellschaftswichtigen, zeitpolitischen Band geschrieben. Danke.
Marcus Neuert: fischmaeuler. Schaumrelief. annagrammatische miniaturen. Geb., 136 S., edition offenes feld. Dortmund, 2021, 17,50 €.