Feuerland. Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883-2020, von Peter Neumann
Dokumentation und Leseabenteuer:
Feuerland. Eine Reise ins lange Jahrhundert der Utopien 1883-2020, von Peter Neumann
Es ist ein Buch, aus dem der Leser Erkenntnisgewinn zieht, vor allem im Überblick über die ausgewählten Denker und ihre Verflechtungen, die wiederum sehr persönlich dargestellt werden undder Sicht des Autors unterliegen. Beispiel Walter Benjamin und die Gedanken der letzten Stunden in dem Schlusspunkt seiner Flucht aus dem Kriegseuropa in Port Bou, in den Pyrenäen, da wird schon einiges interpretiert. Zulässig. Die Geschichten bewegen sich im Zwischenreich zwischen Fiktion und dokumentarisch Recherchiertem. Das hat ja Konjunktur, es liest sich interessant und man zieht Wissen daraus. Gut so.
Das Spannendste an diesem Buch für mich findet sich am Schluss, auf den letzten dreißig, vierzig Seiten – in dem Teil, den der Autor Anmerkungen – Fragmente, Quellen, Fingerzeige bezeichnet.
Wobei der Begriff Fingerzeige überaus treffend scheint: da findet der diese Jahrzehnte Durchleuchtende ganz konkret Hinweise, Quellen, auch atmosphärische Annäherungen, die dem Thema – für mich – erstmal im Detail gerecht werden; allein die Auswahl von Quellen und Hinweisen ist überaus spannend, – spannender oft als die vorangegangenen Erzählungen; wenn ich das Buch nochmals lesen würde, dann in umgekehrter Reihenfolge, zuerst den Anhang und dann die Erzählungen.
Bei denen ich, freilich, auch mein Lesevergnügen hatte. Der Autor Peter Neumann, derzeit gut präsent als philosophischer Publizist, unternimmt einen Gewaltritt durch ein langes Jahrhundert, das eigentlich etwa eineinhalb Jahrhunderte umfasst, er beleuchtet Entwicklungen in dieser Zeit, die auch nachfolgende Epochen beeinflussen: geht aus vom Ausbruch des Krakatau 1883, des wohl ersten global wahrgenommenen Natur- und zugleich Medienereignisses, dann zurückkehrend nach Europa Stationen über Nietzsche, Wagner, Käthe Kollwitz, Gerhart Hauptmann, über Franziska v. Reventlow, Thomas Mann bis hin zu Else Lasker-Schüler und Franz Kafka, Wittgenstein und Trakl, Ernst Bloch und Max Weber, auch James Joyce und Marcel Proust, Samuel Beckett und Caspar David
Friedrich, Salvador Dali und Sigmund Freund, viele weitere bis hin zum Schluss, Stéphane Hessel und Walter Benjamin und ganz zum Schluss noch der Ausbruch der Pandemie in Wuhan 2020.
Was mich an den Anmerkungen reizt: Sie sind konkret, sie sind nachprüfbar, sie schöpfen direkt aus Quellen, sie bieten mir Anhalt. Das Buch vorher, die einzelnen Erzählungen, ja, sie plätschern vor sich hin, in einem dahindämmernden Erzählfluss, sie, ja, bieten manche Information mit Lerneffekt, sie wirken an manchen Stellen zu breit erzählend, wo für mich Knappheit genug gewesen wäre. So richtig Neues erfahre ich nicht, im Zusammenhang aber dann doch, aber im Anhang erfahre ich Konkretes zu dem, was ich weiß, was ich ahne. Das macht dieses Buch für mich wertvoll.
Freilich, nach Nachdenken: die Zusammenstellung der Biografien, allein der Namen, ist spannend: Wittgenstein, Joyce, Beckett, Adorno und Susan Sontag, Hessel, Benjamin. Natürlich jede und jeder für sich ein großer Name. Im Zusammenspiel, man liest ja die Kapitel nicht nur für sich, sondern im Zusammenhang, erschließen sich dem Leser Bezüge, die Sinn, die Widerspiel erlauben. Da, im Nachhinein, doch manche Erkenntnis, auch in langen ersten Teil.
Peter Neumann: Feuerland. Geb., 304 S., mit Abb., Siedler Verlag. München 2022. 24 Euro