Auditions for an unwritten Opera

Staatliche Kunsthalle Baden-Baden | 14. Juli – 08. Oktober 2023

Begleitprogramm zur Ausstellung

Künstler*innen:
Mutlu Çerkez mit Antonia Baehr, Juliet Carpenter, Jesse Darling, Julian Dashper, Egemen Demirci, Pedro Gómez-Egaña, Léuli Eshrāghi, Marco Fusinato, Delia Gonzalez, Özlem Günyol & Mustafa Kunt, On Kawara, Hanne Lippard, Callum Morton, Serkan Özkaya, Ruth Wolf-Rehfeldt, Jeff Wall Production und Felix Gonzales Torres

Bild oben: © Mutlu Çerkez: Untitled 13145 (12 September 2000), 1990

“… I began to title each of my works with a date from the future that would fall during my possible lifetime. I would undertake to repeat each work in some way on its particular date. Every work would reappear at some later point during my life’s work. My work would not evolve, or at least the gradient of its evolution would be flat. It is a system where I can consciously fool myself that all my works are mature works. And working within this system I would, in fact, objectively use my own life’s work as its own subject matter.” Mutlu Çerkez

Vom 14. Juli bis zum 8. Oktober zeigt die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden ein experimentelles Ausstellungsformat: Auditions for An Unwritten Opera stellt erstmals in Deutschland das vielschichtige Schaffen des Künstlers Mutlu Çerkez (1964-2005) einer breiteren Öffentlichkeit neu vor. Ausgehend von einer Einzelpräsentation entfaltet sich eine Konstellation von Installationen und Ausstellungsstücken. Ausgewählte Arbeiten von Çerkez treten in Dialog mit zeitgenössischen Praktiken von Künstler*innen wie Juliet Carpenter, Jesse Darling und Hanne Lippard sowie historische Positionen, etwa On Kawara, Ruth Wolf-Rehfeldt, Felix Gonzalez-Torres und vielen mehr.

… Ich begann, jedes meiner Werke mit einem Datum aus der Zukunft zu betiteln, das in meine mögliche Lebenszeit fallen würde. Ich würde mich verpflichten, jedes Werk in irgendeiner Weise an dem jeweiligen Datum zu wiederholen. Jedes Werk würde zu einem späteren Zeitpunkt in meinem Lebenswerk wieder auftauchen. Mein Werk würde sich nicht weiterentwickeln, oder zumindest wäre der Gradient seiner Entwicklung flach. Es ist ein System, in dem ich mir bewusst vormachen kann, dass alle meine Werke ausgereift sind. Und wenn ich innerhalb dieses Systems arbeiten würde, würde ich in der Tat objektiv mein eigenes Lebenswerk als seinen eigenen Gegenstand verwenden.

*Mutlu Çerkez

Mutlu Çerkez, Untitled: 15 January 2028 from the series 'A design for the overture curtain of an unwritten opera 1999', synthetic polymer paint on canvas, 352x632cm, installation view, Anna Schwartz Gallery, Melbourne, 1999

Bild oben: © Mutlu Çerkez: A design for the overture curtain of an Unwritten Opera, Untitled: 15 January 2028, 1999

Wir leben in einer Zeit, in der sich  Trauer auf Interaktionsmomente in den sozialen Medien reduziert hat – und Politiken des Begehrens und Vergnügungstechnologien unsere Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und selbstbezogene Stimulationen lenken. Dies kann jedoch nicht die wahre Bedeutung geteilter Freude ersetzen. Indem sie den Ausstellungsraum mit emotionaler Intelligenz, kollektivem Unbewussten und konzeptionellem Denken verbindet, wird die Ausstellung zu einem mentalen Raum zwischen Freude und Trauer.

Dazu ruft sie die Werke von Mutlu Çerkez wieder in Erinnerung, um die Art und Weise zu untersuchen, wie das Leben eines Künstlers dem einer Institution gegenübergestellt wird: In der Entwicklung eines Werks als „Work in Progress“ und als Aktualität einer Praxis mit all ihrer Solidarität, Relevanz und Zeitgenossenschaft. 

Das Projekt konzentriert sich auf Formen, Recherchen und künstlerische Produktionen, die gemeinsam Zukunftsszenarien gestalten, teilen und einfordern wollen. Zu diesem Zweck geht es von einem unvermuteten Protagonisten aus der antipodischen Vergangenheit aus und zielt darauf ab, den Künstler Mutlu Çerkez im europäischen Kontext zu erinnern, neu einzuführen und wiederzuentdecken.

Der Titel der Ausstellung – zu Deutsch „Vorsprechen für eine ungeschriebene Oper“ – ist einem Schlüsselwerk des in Großbritannien geborenen australisch-türkischen Zyprioten Mutlu Çerkez entlehnt. Die Einzigartigkeit in der Betitelung seiner Arbeiten dient der Ausstellung als Inspiration. 

Bild links: © Mutlu Çerkez: Untitled 2023 Installationsansicht, Mutlu Çerkez, Anna Schwartz Gallery, Melbourne, 2003

Oftmals gab er seinen Werken keinen Standardtitel, sondern einen, der auf ein zukünftiges Datum verwies, an dem sie neu geschaffen werden sollten. Auf diese Weise schlug er eine zukünftige  Lebensform für die Arbeiten  vor, die sich konzeptionell von ihrer Erzählung, ihrer Produktion oder ihrer Materialität entfernte.

Als Protagonist ist Mutlu Çerkez prädestiniert dafür, einen konzeptuellen Raum, ein kollektives Atelier und eine erweiterte Bühne zu schaffen, die unsere Beziehungen zur Zukunft ebenso hinterfragen wie unsere Verbindungen zum kunsthistorischen Kanon und unsere Positionierung zu fehlenden Kapiteln in der Kunstgeschichte. In dieser Ausstellung geht es nicht nur um das Erbe eines frühen Verlustes, sondern auch um die Betonung des Probens, des „Work in Progress“ und des täglichen Übens – auch ohne Schlussfolgerungen oder Resultate.

Wie kein anderes Genre reflektiert die Oper das Nebeneinander von Leben und Tod. Eine unwritten opera – die titelgebende ungeschriebene Oper – lädt als Kunstwerk dazu ein, eine radikale Poetik zeitgenössischer Praxis zu entwickeln. Die Ausstellung greift eine künstlerische Position wieder auf, die immer wieder nach einer bestimmten Form gefragt hat: nach der ungeschriebenen Oper als konzeptionelles Werk. In seiner Unwritten Opera widmete Mutlu Çerkez sich zwischen 1992 und 2000 fast ein Jahrzehnt lang konzeptionellen Übungen in Form einer Reihe von Requisiten- und Make-up-Design-Studien und untersuchte verschiedene Plattencovern von Bootleg-Aufnahmen von Led Zeppelin. Çerkez führte die Praxis der Unwritten Opera weiter, indem er ihre Formen und Materialität auf eine Gemälde oder den auch von Jimmy Page verwendeten Marshall-Gitarrenverstärker (Untitled: 14 July 2030, 1999 als „stage furniture/props for an unwritten opera“ gezeigt) ausdehnte, oder auf ihren Inhalt: einen beschrifteten Vorhang oder Auditions for an Unwritten Opera im Jahr 2000, eine Ausstellung, die aus einer Videodokumentation der Ausstellungseröffnung bestand.

Das Hauptwerk „A design for the overture curtain of an Unwritten Opera, Untitled: 15 January 2028“ (1999), das auch im Rahmen der 5. Istanbul Biennale (1997) gezeigt wurde, dient als Schlüsselreferenz für die Dramaturgie und Choreografie der Ausstellung.

Die Ausstellung entwickelte sich entlang von Çerkez‘ Werk. Gezeigt wird es neben Arbeiten einer neuen Generation von queeren, kritischen und radikalen Praktiken, die Fragen zum Probenprozess, der Zustand von work in progress und zum Künstlerleben als eine  Biografie des Übergangs stellen. Der Untertitel der Ausstellung schlägt den Begriff „around“ anstelle eines Ausdrucks wie „about“ vor. Dieses „Rund um die Werke von Mutlu Çerkez“ bezieht sich auf ein Umkreisen, Versammeln und Zusammenbleiben. Partituren, Proben, kognitive Übungen, Noten und andere Formen konzeptionellen Denkens treten als Leitmotiv für das Verständnis des Lebens eines Künstlers und der Lebensspanne eines Kunstwerks auf – insbesondere in den Werken von Antonia Baehr, Delia Gonzalez, Julian Dashper und Marco Fusinato. Auch die gemeinsamen Arbeiten von Mutlu Çerkez mit Marco Fusinato und Callum Morton sind in der Ausstellung zu sehen.

Eine neue Filmarbeit von Juliet Carpenter, die auf der Shortlist für den Walters Prize 2024 steht, sowie eine  jüngste Arbeit des für den Turner Prize 2023 nominierten Jesse Darling werden im Rahmen dieses Projekts gezeigt. Ein anderer Raum ist einem konzeptionellen Dialog zwischen zwei in Berlin lebenden Künstlerinnen gewidmet: Die mit dem Preis der Nationalgalerie 2023 ausgezeichnete Hanne Lippard sowie Ruth Wolf-Rehfeldt, die 2022 mit dem Hannah-Höch-Preis ausgezeichnet wurde. Zusammen mit diesen Positionen schlägt die  Ausstellung  vor, Formen der Reinkarnation, der Reproduktion, der Regeneration und des Erinnerns innerhalb der Grenzen des menschlichen Gedächtnisses und der Fluchten des Vergessens neu zu denken.

Ausgewählte aktuelle Werke von Pedro Gómez-Egaña und Serkan Özkaya, die mit ortsspezifischen Parametern und neuen museologischen Fragestellungen an den Ausstellungsraum der Kunsthalle angepasst wurden, schaffen räumliche Verbindungen zur Ausstellungserzählung, indem sie unseren Blick, die menschliche Anatomie und die dynamischen Beziehungen zwischen dem menschlichen Körper und der Institution berücksichtigen. Zwei Werke von Özlem Günyol & Mustafa Kunt werden anlässlich des zehnten Jahrestages der Gezi-Proteste wieder aufgegriffen.

Egemen Demirci, der zwei Jahre lang als „Hauskünstler“ mit der Kunsthalle Baden-Baden zusammengearbeitet hat – eine Position, die geschaffen wurde, um Künstler*innen mit bezahlten Arbeitsstunden in den institutionellen Rahmen einzubetten – nimmt Spectator on White, eine Arbeit von 2012, wieder auf. In dieser Videoarbeit gehen Ausstellungsbesucher*innen durch imaginäre Kunstwerke, die aus ihrer Erinnerung abgerufen werden und für die Betrachter*innen des Videos unsichtbar sind. Die Neuauflage dieses bestehenden Werks in der neoklassizistischen Architektur der Kunsthalle als staatlicher Kunstinstitution, in einem denkmalgeschützten Gebäude und in der Stadt der Festspiele, des Kurhauses und des Friedrichsbads stellt eine starke Verbindung zu Mutlu Çerkez‘ ungeschriebener Oper her, vielleicht sogar als das fehlende Libretto.

Beauftragt von der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, dem Museum of Contemporary Art, Warrane/Sydney, und der Plimsoll Gallery, University of Tasmania, präsentiert Nipaluna/Hobart Léuli Eshrāghi seine neue Zweikanal-Videoarbeit, die sich durch ihre poetischen und performativen Handlungen mit den Gemälden von Mutlu Çerkez zu DNA-Strukturen verbindet.

Auditions for an Unwritten Opera wird ermöglicht durch Leihgaben des Monash University Museum of Art | MUMA, der Felix Gonzalez-Torres Foundation, der Staatsgalerie Stuttgart, des Griffith University Art Museum, der Anna Schwartz Gallery, Melbourne (Australien), PALAS (Australien), der Michael Lett Gallery in Auckland (Neuseeland), der Sultana Gallery in Paris, der Zilberman Gallery und ChertLüdde in Berlin sowie von Hot Wheels Athen.

In ausführlichem fachlichen Austausch mit Charlotte Day, Marco Fusinato, Callum Morton und anderen Kollegen von Mutlu Çerkez, sowie mit Pierre Bal Blanc, Florian Lüdde und Andrew Kachel, werden durch die Präsentation von Werken von On Kawara, Jeff Wall Production, Ruth Wolf-Rehfeldt, Felix Gonzales Torres und anderen weitere kunsthistorische Verbindungslinien zu  dem Erbe von Mutlu Çerkez offengelegt.

Die Druckerzeugnisses und andere Ausstellungsmaterialien werden von Matter Of, einem langjährigen Partner der Kunsthalle, als Hommage an das typografische Werk von Mutlu Çerkez gestaltet. Die Recherchen und der Aufbau dieser Ausstellung werden in eine Publikation einfließen, die von Hatje Cantz herausgegeben wird und 2024 in Australien erscheint.

Auditions for An Unwritten Opera. Rund um die Werke von Mutlu Çerkez wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung des Landes Baden Württemberg. 

Wir bedanken uns bei Serkan Özkaya`s Canada Council for the Art für die Unterstützung bei Neuproduktionen und Reisekosten.

Kuratiert von Misal Adnan Yıldız