Schnee schwarz – und Schnee weiß, heute und früher

Uli Rothfuss | Literarisches Leben

von Uli Rothfuss

Bild links: Uli Rothfuss; © Foto: erlebe wigner
Uli Rothfuss, Professor für Kulturwissenschaft und Publizist, geb. 1961, wohnhaft in Stein/Franken und Ebershardt/Schwarzwald.

Rektor der Akademie Faber-Castell und Leiter des Hochschulstudienprogramms sowie des Weiterbildungsstudiums Literarisches Schreiben und Essayistik.

Über 20 Buchveröffentlichungen, zahlreiche kulturessayistische Artikel in Zeitungen, Zeitschriften. Präsident der Europäischen Autorenvereinigung Die KOGGE, Präses des Pegnesischen Blumenordens Nürnberg, der ältesten deutschen Sprach- und Literaturvereinigung ununterbrochen seit 1644, und Mitglied im Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland und Mitglied im Advisory Board des Writers-for-Peace-Committee des Internationalen PEN. www.uli-rothfuss.de.

Wichtige Buchveröffentlichungen:
Wargus. Werde zum Wolf. Jugendroman. Brockmeyer Verlag, Bochum, 2015.
Bist du der Elch? Auf dem Weg zum Glück. Jugendbuch. Joy Edition Buchverlag, Heimsheim, 2009.
Leila lacht. Roman. Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, 2004
Hermann Hesse privat. Eine Biografie. Edition q im Quintessenz Verlag, Berlin, 1997.
Der Denkschwimmer. Erzählung. Verlag Die blaue Eule, Essen, 1990.

Schnee schwarz – und Schnee weiß, heute und früher
Gedanken zu „Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt“ – ein Zitat von Sarah Kirsch

Der Schnee liegt schwarz in meiner Stadt – das Zitat, das Motiv der verehrten Dichterin Sarah Kirsch ist ein Bild, das ich mir sehr real vorstellen kann; real und beängstigend, eine heutige Stadt, kalt, im Winter, es schneit. Die Zeit kalt wie das Wetter, der Schnee ist aber nicht weiß, sondern schwarz wie die Nacht, am hellichten Tag, und mit seiner schwarzen Decke so vieles an anderem, an Dunklem zudeckend, nein, nicht nur die schwarze Decke, er fällt schon schwarz herab, dieser Schnee, und er liegt schwarz in meiner Stadt, überall, der schwarze Schnee bedeckt die Stadt, kein Weiß, kein Grün, kein selbst Grau, nur ein eintöniges, ein weites Schwarz, so weit das Auge reicht. Es deckt das alles, was sowieso schon dunkel heraufschwillt, noch mit tiefem Schwarz zu.

Die Dunkelheit überwiegt in einer Zeit, in der die Welt verrückt spielt, in der alle ins Kriegsgeschrei einstimmen, in der das Töten, das Abmetzgen der anderen, derer, die anders aussehen, anderes glauben, auch nur anders denken, das Auslöschen der Menschen, der Natur, der Hoffnungen, zur Tagesordnung gehört – wo man auch hinblickt, konkret, sei es im Osten Europas, in der Ukraine, sei es im Orient, in Israel, oder subtil hier bei uns, wagt man es nur, andere Meinung zu äußern, Verständnis für die einen zu formulieren, dann wird man niedergebrüllt, mental niedergeschlagen, es schämt sich niemand mehr, dies öffentlich und mit Hohn zu unternehmen, selbst wenn junge Menschen Opfer werden, Mordbrenner kommen über uns von allen Seiten, und deren Unterstützer lauern überall, selbst hier, bei uns um die Ecke, hinterlassen sie ihre triefenden Spuren im schwarzen Schnee.

In meiner Kindheit, im Schwarzwald, liebten wir die Ankunft des ersten Schnees, wir jagten durch die meterhohen Schneehaufen, jubelnd, voller Freude, wir nahmen den Schnee, der über Wochen, Monate hinweg die Landschaft in sein Weiß wie reingewaschen tauchte, als Freund, der weiße, leuchtende Schnee hing schwer auf den Tannen, überzog die Felder, und wollte man ihn durchdringen, so war es anstrengend, hindurchzustapfen; wir genossen das, wir liebten den Schnee, und mit roten Backen, die Zipfelmützen tief in den Nacken und die Stirn gezogen, die Hände mit dicken Handschuhen bepolstert, nahmen wir den Schnee als einen Freund, der in diesen Monaten zu uns gehörte wie drinnen der Ofen, der uns nach den Gängen weit hinaus bis zum Wald wieder auftaute. Schwarzer Schnee, auf den Gedanken wären wir damals noch lange nicht gekommen. Ein Schnee, der niedergedrückt auf den Straßen liegt, dumpf, dunkel, in sich gesunken, ein Schnee, der als solcher nicht einmal mehr ernst genommen werden kann, wenn man einmal in der Kindheit dieses reine Weiß, diesen Schnee des sonnigen Winters, erlebt hat, der gefroren über Wochen hinweg lag, der uns aufnahm wie seinesgleichen, der die Kälte gab ohne dass es uns zu viel geworden wäre; der im Sonnenlicht glänzte, glitzerte, uns das Abenteuer des Lebens versprach.

Sehe ich heute hinaus auf den schwarzen Schnee in der Stadt, so fürchte ich jeden Schritt hinein, als könnte ich hineinversinken, so ist mir Angst, was sich hinter, unter der schwarzen Schicht verbirgt, sei es Blut, das Blut der Unschuldigen, mit dem auch wir unsere Hände beflecken, angesichts dieser blinden Wut, mit der die Kriegstreiberei unterstützt, vorangetrieben wird; und wir nicht wissen, was tun, wie uns dem Wahnsinn entgegensetzen.

Da wird von Menschenrechten gesprochen, davon, dass auch die Schwachen ihre Rechte hätten und in Anspruch nehmen dürfen. Ja. Hehrer Anspruch. In Israel, in Palästina, werden Kinder vertrieben, werden in Bombennächte hineingetrieben, bleiben zurück, verstümmelt, ermordet. Es gibt keinen mehr, der das Recht auf seiner Seite hätte. Die Frage, die sich mir stellt, ist immer wieder: hat, wer rächt, wer nach dem alttestamentarischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ handelt, wer nicht vergeben kann, wer nicht Nachsicht üben kann, hat der selbst auch seinen Anspruch auf ein Mindestmaß an Recht verwirkt? Und wie schmutzig muss Politik sein, hier noch zu befeuern, Ressentiments auszunutzen für eigene, egoistische Zwecke?

Was, ja, was ist die Konsequenz, die ich dann für mich ziehen muss? Den Rückzug? Den Rückzug ins rein Private, das Ausblenden dessen, was draußen passiert in der Welt? Was, wenn mein jüdischer Nachbar, mein Freund, Bruder, angegriffen wird? Schlage ich zurück, bin ich meines Bruders Hüter? Und, wenn ja, mit welchen Mitteln? Maßvoll, verhältnismäßig, oder maßlos und ohne jedes Verhältnis zu den Mitteln des Angreifers? Das sind Fragen, die ich mir stelle, in diesen Tagen.

Im Sommer war ich in Frankreich. Wir besuchten im Burgund Kirchen, Kathedralen, alle 800, 1000 Jahre alt und älter, mit reicher Geschichte, mit Kunstwerken in den Gemäuern, die die Jahrhunderte überstanden haben, mit Steinmauern, Säulen, die schon Gläubige vor Hunderten von Jahren ehrfürchtig berührt haben. In solchen Momenten überkommt mich ein Gefühl von Dauer, ein Gefühl des Wissens um die Ewigkeit, von der wir da ein Bruchstück erleben dürfen. Was, so überlege ich mir, spielen da ein paar Querläufer der Zeitläufte für eine Rolle? Wer bin ich da, als einer von so vielen, der sich nun diese Gedanken machen, was überdauert davon, wohin geht das alles, auch wenn ich nichts mehr sage oder zu sagen habe? Ich merke, ich stelle, ich stelle mir, in diesen Tagen mehr Fragen als dass ich je Antworten geben könnte. Schwer zu ertragen für jemanden, der gewohnt ist, Antworten zu geben, auf die Fragen der Lernenden.

Wenn ich mein Handy öffne, wenn ich die Bilder ansehe, die Bilder dieser Welt, die schwarzen Schneeschichten in den Städten der Welt, dann umgibt mich ein Schweigen angesichts dessen, was mir seit der Kindheit als gut erschien. Das Gute wird schwarz, es ist nicht länger der weiße Schnee der Kindheit, der mich umgibt, der mir Hoffnung schenkt, dass es das Reine noch gibt; er hat sich schwarz gefärbt, der Glaube daran verliert sich im Echo, das ich in die Wälder der Kindheit hinausschreie. Was bleibt, ist schreiben – als Möglichkeit, die letzten Dinge irgendwie noch festzuhalten.

Im Herbst 2023
Uli Rothfuss

Präsident der Europäischen Autorenvereinigung Die KOGGE e.V.
www.diekogge.com
Präses des Pegnesischen Blumenordens www.blumenorden.de
Mitglied im Präsidium des PEN-Zentrums Deutschland www.pen-deutschland.de und im Advisory Board des Writers-for-Peace-Committee des Internationalen PEN www.penwritersforpeacecommittee.com