Apropos zusammenhanglos …

Hausbesuche | Jürgen Linde zur aktuellen Ausstellung der
Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen | 05.07. – 06.10.2024: Timm Ulrichs – Nichts als Theater!

Apropos zusammenhanglos,

für mich eine Standard-Redewendung, ideal zum Einstieg in jede Rede vor Publikum, um dieses darauf einzustimmen, was nun zu befürchten ist (und was die Besucher ja gewissermaßen auch erwarten). Hier insofern auch passend, als mein enger Zeitplan – auch ein Wort, dessen ebenso ungewollte wie unvermeidliche abgrundtiefe Ironie Timm Ulrichs zum Gegenstand eines (surrealistischen?) Kunstwerkes machen könnte, mir nur einen Kurzbesuch am Tag vor der Ausstellungseröffnung erlaubte.

Bild links: Timm Ulrichs, »Selbstausstellung«, 1961
Timm Ulrichs während der Eröffnung der Ausstellung  >open box< im Karl Ernst Osthaus-Museum, 1991 | Fotografie | © Timm Ulrichs

ICH – so der Titel des ersten Raumes der Ausstellung, mit der die Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen den Künstler Timm Ulrichs präsentiert. Mit einem besonderen Ausstellungskonzept gelingt es der leitenden Kuratorin der Ausstellung, Dr. Isabell Schenk-Weininger, dem wohl bekanntesten Konzeptkünstler Deutschlands gerecht zu werden. Raum für Raum werden unsere Personalpronomen (Ich, Du, R, Sie, S …) durchdekliniert.

größenwahnsinnig
ist Timm Ulrichs eigentlich nicht – oder vielleicht doch? Zahlreiche seiner Arbeiten zeigen die nahezu unbegrenzte Bedeutung des Künstlers (so finden wir u.a. einen Künstler-Haar-Pinsel aus dem eigenen Haar des Künstlers), die er dann doch selbst mit einem seiner wohl bekanntest Texte (nicht wirklich) abschließend beantwortet:
“Denken Sie immer daran, mich zu vergessen.”

Denken Sie immer daran, mich zu vergessen!, 1969/75
weiß polierter Carrara-Marmor, Blattgold, 30 x 40 x 2 cm; Kunstmuseum Ahlen, Dauerleihgabe Theodor F. Leifeld-Stiftung | Foto: Christian Ring, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

konkret
Denn Timm Ulrichs, bekannt als Totalkünstler, als erstes lebendes Kunstwerk und als Dada-Enkel ist wohl zuallererst Konzeptkünstler. Die zuvor genannten Begriffe oder auch Schubladen besetzt er, um sie damit gleichzeitig in Frage zu stellen. Beginnen wir mit einer Schublade, die ich oben vergessen habe: Konkrete Kunst ist sicher auch einer seiner Tätigkeits- und Denkräume:
In der Koje (?) ICH finden wir, neben einem Foto seiner Präsentation als lebendes Kunstwerk (wobei er sich selbst in einer Glasvitrine eines Museum ausstellte) auch das Werk mit dem Titel, der auch als Text der Bildinhalt ist:

Am Anfang war das Wort Am.
Ein Satz – wahrhaft konkret, veranschaulicht er sich selbst. Gleichzeitig ist er kritisch lesbar : verweist er doch, durchaus ein wenig pädagogisch, auf die Hermetik, die konkreter Kunst oft innewohnt: Klar, wenn wir davon ausgehen, dass am Anfang das Wort war, so werden wir wohl diesen Gedanken weiterspinnen, so dass uns später kaum noch in den Sinn kommen wird, den Ausgangspunkt des entstehenden Gedankenmodells in Frage zu stellen – um dann dessen ja eigentlich hypothetischen (oder auch dogmatischen) Kern radikal zu hinterfragen.

Der erste sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend), 1970
weiß lackiertes Holz, 90 x 45 x 45 cm; Kunstmuseum Ahlen, Dauerleihgabe Theodor F. Leifeld-Stiftung
Foto: Ferdinand Ulrich, © VG Bild-Kunst, Bonn 2024

radikal, ironisch und humorvoll
Radikalität ist eine weitere Stärke des des Künstlers Ulrichs: erfrischend etwa der erste sitzende Stuhl (nach langem Stehen sich zur Ruhe setzend), 1970.
Peter Weibel sagte einmal: “Aufgabe der Kunst ist es, Türen zu öffnen, wo sie keiner sieht.”
Ganz in diesem Geiste könnten wir sagen: Timm Ulrichs öffnet Schubladen in unseren Köpfen, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben.

Insofern erleben wir die Kunst Timm Ulrichs als nachdenklich, als ironisch und humorvoll, als befreiend.
Die Ausstellung ist unbedingt empfehlenswert; Kunst darf alles, auch Freude machen. Wenn Ihnen dies etwas zu kurz und knapp war (apropos zusammenhanglos?), gönnen Sie sich Zeit für den Besuch in Bietigheim- Bissingen.

Es ist (dies meine ich nicht ironisch; das gibt es wirklich:)
gewonnene Zeit.

Jürgen Linde für das kunstportal-bw, 03.07.2024

Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen
Hauptstr. 60 – 64; 74321 Bietigheim-Bissingen
Tel. 49 (0) 7142 / 7 44 83; Fax 49 (0) 7142 / 7 44 46
Öffnungszeiten: | Di, Mi, Fr 14-18 Uhr, Do 14-20 Uhr, Sa, So, Feiertage 11-18 Uhr