Geste und Linie

Prof. Fabian Goppelsröder zur Ausstellung von Kalin Lindena

Städtische Galerie Karlsruhe | 01.12.2024 – 27.04.2025 | Kalin Lindena: Schatten von Wind

„Or, cette philosophie qui est à faire, c´est elle qui anime le peintre,
non quand pas il exprime des opinions sur le monde,
mais à l´instant où sa vision se fait geste,
quand, dira Cézanne, il ‚pense en peinture’.“
Maurice Merleau-Ponty

Eine Geste nennt Kalin Lindena ihre künstlerischen Interventionen. In den Raum geschnittene, zur Form gewundene Bewegungslinien. Shapes, Objekte, Arbeiten, die auch Spur des für eine Professorin der Kunstakademie eher ungewöhnlichen Werdegangs sind: Der Ursprung von Lindenas Schaffen liegt im Grafitti. „Die Künstlerin, die sprüht“ war ein Artikel über sie 2015 doppeldeutig überschrieben. Bevor sie an der HBK in Braunschweig bei Hartmut Neumann, Johannes Brus und Walter Dahn studierte, war sie Sprayerin in den Straßen von Hannover. Und auch wenn sie mittlerweile seit 2014 selbst eine Malereiklasse in Karlsruhe betreut und leitet, schreibt sich dieser Ursprung in Lindenas künstlerischer Arbeit fort. Als Technik wie als Subkultur prägt das Graffiti ihre Praxis und ihr Selbstverständnis. Eine Prägung, die sich in keiner äußerlich eingängigen Ästhetik zeigt, sondern vor allem dann erkennbar wird, wenn man die malerischen und die skulpturalen, die installativen und die performativen Arbeiten als, ja, eben als Gesten zu verstehen sucht.

Das Wort ist hier kein Platzhalter. Es ist nicht metaphorisch im Sinne einer nachgeordneten, nur übertragenen Bedeutung, steht nicht für große Wirkung, Überwältigung und auch nicht für die kleine Setzung. Geste verweist an dieser Stelle eher auf den Modus der Entstehung der Arbeiten Lindenas. Wer gestisch malt, der malt im Raum wie beim Graffiti. Denn anders als mit Bleistift oder Kohle auf Papier wird jede Linie beim Sprühen zwangsläufig zur Bewegung des gesamten Körpers. Und darin auch zu dessen Spur. Die Geste ist nicht einfach Mittel, nicht nur der Ausdruck der Idee, eines schon abgeschlossenen Gedankens. Sie ist das Denken im Vollzug, könnte man sagen, ‚penser en peinture‘, wie es Maurice Merleau-Ponty in Paul Cézannes Werk zu erkennen meint. Gestisch organisieren wir die Welt von innen statt von außen, verschieben und verdrehen das Vertraute bis sich uns neue, ungewohnte Formen zeigen. Formen, die nicht auf den Begriff zu bringen sind, die sich nicht abstrahieren lassen, nur im Konkreten für uns anschlussfähig bleiben.
Gesten sind keine Zeichen, in denen wir das Medium als materialen Träger von der durch ihn vermittelten Bedeutung trennen könnten. Sie sind Bewegungslinien des Körpers, die in sich selbst zurückkehren, Muster, welche die ‚kleine Vernunft des Geistes’ nicht versteht, für die es eine ‚große Vernunft des Leibes‘ (Friedrich Nietzsche) braucht, um sie zu prozessieren, zu verdauen. Der Mensch als Ganzes ist ihr Maß.

In der Philosophie wird mit dem Homo mensura Satz – der Protagoras zugeschriebenen Maxime vom ‚Menschen als dem Maß aller Dinge’ – ein epistemologischer Relativismus verbunden:Erkenntnis ist nicht objektiv, sie ist abhängig vom Standort und den subjektiven Fähigkeiten des Individuums.

In der künstlerischen Arbeit ist das anders. Der „Mensch als Maß und Mitte“ war das Leitbild Oskar Schlemmers. In der Malerei und mehr noch in seinen Bühnenarbeiten entfaltet sich der Raum durch die menschliche Figur wie diese ihre Form nur durch den Raum zu finden scheint. Der „Mensch als Maß und Mitte“ führt bei Schlemmer nicht in die Vereinzelung. Er zeigt das Individuum vielmehr als Ort, in dem sich Teil und Ganzes, Objekt und Raum gegenseitig erst vermitteln. So bilden im triadischen Ballett Kostüm, Bewegung und Musik, Figur, Form und Farbe, Kreis, Quadrat und Dreieck ein Gesamtkunstwerk, das gleichsam aus dem korsettierten Körper der
Tänzerinnen heraus entsteht. Nicht zufällig wird auch Lindenas Arbeit immer wieder mit derjenigen Oskar Schlemmers assoziiert. Sie selbst bezieht sich explizit auf ihn. In einem Beitrag zum 100 jährigen Jubiläum des Triadischen Balletts in Stuttgart vor zwei Jahren vermisst sie und gestaltet sie den Raum in der ikonischen Rotunde der Staatsgalerie mit Hilfe von am Boden angebrachten bunten Klebestreifen. Vier Tänzerinnen gehen Schritt für Schritt entlang der Linien, bilden in ihren Gesten ausgreifende, bewegte Körpermuster und -konstellationen. Keiner der Körper ist, so wie bei Schlemmer, durch ein Korsett beengt. Und doch sind seine Bewegungen nachhaltig limitiert. Die vorgeklebten Linien bilden die Grenze und zugleich die innere Struktur des Raums, der sich
durch die Performance auftut. In ihr öffnen sich spatiale Möglichkeiten, die unser durch Routinen
habitualisierter Alltagskörper nicht erschöpft.
[ Hier dazu ein Videobeitrag: Moved by Schlemmer ]
Durch die Bewegungen der ‚Gehtänzer‘ (ein von Lindena bei Peter Handke geliehener Begriff) wird die Bodenlinie ins Dreidimensionale moduliert und vom scheinbar simplen Vektor, vom Mittel der Ausrichtung auf einen Punkt, zum Medium einer „Aufteilung des Sinnlichen“, wie Jacques Rancière die Verschiebung unserer vorbewussten Organisation von Wahrnehmung bezeichnet. Die Bewegungen der Körper, die Gesten der Performerinnen haben hier nicht wirklich einen Anfang und letztlich auch kein Ende. Sie sind gerade nicht mehr durch ein Ziel bestimmt. Die von ihnen, mit ihrem Körper im Raum gezogenen Linien werden zum Kreis, auch da, wo sie nicht als ein Kreis erscheinen. Kreise aber, die die wahrnehmbare Welt aufteilen, sind Meridiane. In seiner Büchnerpreisrede von 1960 hat Paul Celan die Linie eines Gedichts in Abgrenzung zum Vektor informativer Sprache einen Meridian genannt: Eine Linie, die verbindet und Begegnungen ermöglicht, die immateriell und doch irdisch, terrestrisch ist, die „über die beiden Pole in sich selbst“ zurückkehrt „und dabei – heitererweise – sogar die Tropen“ durchkreuzt. Auch die Linien Lindenas sind als Gesten eigentlich Meridiane. Sie durchschneiden den Raum, teilen ihn auf und ermöglichen gerade dadurch neu Verbindung und Begegnung. Sie finden sich als Klebestreifen oder als diaphane Vorhänge; als filigrane Kanten der skulpturalen Arbeiten, als durchscheinende Glasmalerei oder als die performative Überschreitung der erst dadurch sichtbar werdenden Trennung von Innen und Außen. Grenzen, die nicht abschotten und auf das Eigene zurückwerfen, sondern stattdessen Liminalität und also Übergangserfahrungen erlauben. Wo wir daran gewöhnt sind, nur Eines oder Anderes zu sehen, nur Dieses oder Jenes, Entweder/oder, da öffnet sich an ihnen das Zwischen der Oppositionen. Die Alltagsordnung unserer Wahrnehmung verschwimmt, was klar erkennbar war, wird unscharf. Die Zwischenräume selbst ziehen die Aufmerksamkeit auf sich und lassen das Binär als Schema kollabieren. Lindena sucht gerade diesen Kollaps. Die mit ihrer Kunst markierten Grenzen sind gewollt porös und brüchig. Sie teilen den Raum auf und gründen trotzdem keine neue Ordnung. Was diese Grenzen auszeichnet ist ihre Übergängigkeit. Lindenas Arbeit folgt, könnte man sagen, einem musikalischen Prinzip. Klang und Sound – diese „Grenzübertreter von Natur“, wie es Hans Jonas pointierte – nutzt sie als eine Art Katalysator ihrer eigenen Projekte und rhythmisiert die Wahrnehmung durch in den Raum gelegte Gestenlinien zu einem niemals endenwollenden Prozess des Übergangs. So wird in Karlsruhe der Projektraum der Städtischen Galerie zum Panorama aus- und ineinander übergehender, erst im Verschwinden sichtbarer Fahnen-Formationen. In den als Waffen- und als Munitionsfabrik gebauten Räumen transformiert Lindena Banner und Standarte als Zeichen strikter hoheitlicher Ordnung und straffer Hierarchie in einen bildnerischen Ausdruck der Vielgesichtigkeit des Wirklichen; zu aus der militärischen Vereinnahmung befreiten Umrisslinien vom Wind bewegter Leinwand. Weder nur Skulptur noch einfach Malerei sind die mit reflektierend farbig unbestimmtem Stoff bespannten Shapes an die Wand montierte Formen, die nur im Blick der wandernden Betrachterin ihre Lebendigkeit erlangen.

Nicht, was man auf den ersten Blick zu sehen meint – das Abbild, das Sujet, das Zeichen – ist entscheidend, sondern wie sich dieses scheinbar Erkannte ständig verändert, sich nicht fixieren lässt. Die Übergängigkeit der Formen selbst wird zur ontologischen Pointe dieser Arbeit. Man muss den Raum begehen, die sich verschiebenden Blickwinkel und Perspektiven aktiv suchen, das Spiel der fließenden Wahrnehmung mitmachen. Die die Decke tragenden, zentralen Säulen werden zu gekanteten und schlecht proportionierten Fahnenstangen, deren schwerfällige Masse an den leicht in der Luft tanzenden Formen zieht und sie doch nicht zu halten und zu arretieren schafft. Ein Schritt und dieses Bild zerfällt, zeigt sich als Illusion, vielleicht auch als ein Wunschbild, das mehr über die Erwartungen von uns als den Betrachtenden aussagt als über das, was hier tatsächlich wunderbar erfahrbar wird: die bewegte Kontingenz unserer Wahrnehmung.

Lindena geht es nicht um diesen einen Gegenstand, um dieses eine Bild, diese Skulptur, die einzelne Performance. Sie alle sind vor allem Mittel einer allein für den Moment im Auge des Betrachters möglichen gelingenden Intervention. Eine Irritation, die die Wahrnehmungsroutinen stört, eine Provokation, die eine Re-Aktion hervorruft. Die Ausstellung wird so zu einer Art Experimentalsystem, in dem jede Besucher*in gewissermaßen zum Versuchsobjekt mutiert: Erst mit der Re-Aktion auf das Gesehene, das Wahrgenommene vollenden sich die hier gezeigten Arbeiten als Gesten.

Auch hierin wird der Ursprung dieser Kunst aus dem Graffiti deutlich: Die Geste ist nicht nur die Spur des Körpers, sie ist zugleich die Forderung nach körperlicher Re-Aktion von Seiten der Betrachtenden. Mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt: Verstörung, Unverständnis, Ärger. Wichtig ist nur, sich nicht in dem gemütlich einzurichten, was uns als ‚schön‘, als ‚gut‘, als ‚Kunst‘ und ‚nicht Kunst‘ längst vertraut und einfach einzuordnen ist. Das ist die vielleicht letzte Linie, die letzte Grenze, die sich in diesen so reduziert-einfach scheinenden Arbeiten als Übergang entfaltet: Die Grenze zwischen Kunst und Lebenswelt. „Keep it simple“ ist eine der Maximen Kalin Lindenas. Und tatsächlich schafft sie es auf ihre Weise, scheinbar Vertrautes mit neuen Augen anzusehen, die Komplexität des Einfachen künstlerisch zu entfalten.

Fotos / Werke © Kalin Lindena