Hinkelstein 59 | 26.10.2025 | Rasender Stillstand

Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg:
Jeden Sonntag frisch auf den Screen

Bild oben: Johan Grimonprez: Videostill; © zap-o-matik, Brussels
ZKM Karlsruhe | 07.06. – 08.02.2026 | Johan Grimonprez. All Memory is Theft
Di, 18.11.2025 18 Uhr | Gespräch zwischen Johan Grimonprez und dem Autor Tom McCarthy:
 Memory Is The Future in Reverse

Liebe Hinkelstein-Leser,

„Turn“ war der Titel des letzten Hinkelsteins (Nr. 59), die Entwicklung der Social Media im Blick: Seit zwei Jahren schrumpft die Social-Media Nutzung in Deutschland, langsam, aber stetig. Ein Trend, der mir erfreulich erscheint, weil ich ja die Social-Media in Verbindung sehe mit der Tendenz zu autoritären Strukturen, wie hier mehrfach ausgeführt; kürzlich, im Hinkelstein 56, sehr explizit: „Follower brauchen Führer„.
Warten wir ab, ob die Schrumpfung der Social-Media wirklich ein Trend ist und nicht nur eine temporäre statistische Schwankung.

Apropos zusammenhanglos, bzw. apropos Turn und Schrumpfung:
Blicken wir einmal über den Tellerand der Mediengesellschaft hinaus auf unsere Gesellschaft insgesamt, so warten wir ja alle noch immer auf einen Turn:
Seitdem Friedrich Merz am 06.03. im 2. Wahlgang(!) zum Kanzler gewählt wurde und zuvor, was im Wahlkampf legitimerweise dazu gehört: recht vollmundige Ankündigungen gemacht hatte über die Wende in der Wirtschaftsentwicklung, über radikale Reformen, die man – was ja wirklich neu wäre(!) – nicht nur diskutieren und versprichen, sondern auch realisieren werde, warten alle darauf, dass die Regierung (modern, aber ich finde, sehr treffend:) endlich liefert.
Stattdessen: Nach hundert Tagen herrscht rasender Stillstand,
so bilanzierte die Zeitung die Welt schon am 14.08. die ersten Hundert Tage der Regierung Merz in Berlin. Schon zuvor und inzwischen noch häufiger lesen wir solche Schlagzeilen, wir haben uns daran gewöhnt.

Nachdem die deutsche Wirtschaft zwei Jahre lang nacheinander leicht (um den verwirrenden Begriff „Minus-Wachstum“ zu vermeiden) geschrumpft ist, wäre ja erfreulich, wenn tatsächlich wirksame Gesetze verabschiedet würden, die unser Land vorwärts brächten. Stattdessen erleben wir eine zunehmend beängstigende Lähmung. Der positiv klingende und gemeinte Begriff Kontinuität wird heute neu definiert als Stillstand.

Spätestens seit 2021 die Ampelregierung unter Olaf Scholz (einige wenige werden sich noch an ihn erinnern) das Ruder übernommen (und selbiges dann wohl irgendwo verbuddelt oder eingelagert) hatte, passiert: Nichts. Der Regierungswechsel hat nichts verändert. Auch wenn Finanzminister und Vizekanzler Lars Klingbeil, der eher durch seine Körpergröße als durch seine Textbeiträge beeindruckt, permanent das Gegenteil behauptet.

Dazu die epocheübergreifende Video-Einblendung:
Monarchie und Alltag“ von Fehlfarben (Postpunk, 1982): Fehlfarben: (Ein JahrEs geht voran.

Aber warum bewegt sich nichts in Deutschland? „Wir müssen endlich ins Handeln kommen“ – diese ebenfalls modische und treffende Formulierung hört man derzeit überall, gerade auch aus der CDU.

Ein Beispiel: Die deutsche Politik steht zweifellos vor der Aufgabe, Deutschland wieder international wettbewerbsfähiger zu machen, falls es dazu nicht schon zu spät ist. In der Regierung sind viele der ersten naheliegenden / notwendigen Schritte bekannt, da die entsprechenden Gesetze aber wohl auf Widerstand stoßen würden, gründet man zuerst einmal einen innerparteilichen Arbeitskreis (AK) , der nach 4 bis 6 oder mehr Arbeitstreffen – mit Arbeitsessen (remember „… und was Süsses zum Dessert“: Marius Müller-Westernhagen: Freiheit) innerhalb von 10-12 Wochen) dem Parteivorstand dann einen 10-Punkte-Aktionsplan vorlegt. Man erkennt sofort: Alle 10 Punkte würden zum Streit mit dem Koalitionspartner führen, daraufhin wird der AK parteiübergreifend neu aufgesetzt; externe Experten aus der Wirtschaft / Wirtschaftsforschung werden hinzugezogen. Nach weiteren 6 Monaten liegt ein neuer Aktions-Plan vor, dessen 10 Punkte bis zur denkbaren Konsensfähigkeit aufgeweicht wurden.

Um ins Handeln zu kommen, soll der neue Plan zur Gesetzesvorlage umformuliert, konkretisiert werden. Da absehbarerweise in vielen Punkten auch die Zustimmung der Länder erforderlich sein würde, wird diese Aufgabe dann zunächst besser erst einmal weitergereicht an die zuständigen Ausschüsse.
Da die Terminkalender aller ja wichtigen Teilnehmer jeweils schon randvoll sind, geht man davon aus, dass die Abstimnung in den Ausschüssen >= 2 Jahre in Anspruch nehmen wird…(usw). Dann gibt es neuen Aktionsplan mit 30 seitigem Anhang zur Erklärung und 5 jeweils 40-50seitigen Expertisen der hinzugezogenen Fachleute).
Bis es dann zur 1. und und dann wohl gar auch zur zweiten, dann entscheidenden Gesetzesvorlage kommt, sind die nächsten Bundestagswahlen vorbei und die Regierungspartei verteilt sich auf den Oppositionsbänken.
Die neue Regierung aber beschließt, sehr zeitnah einen Aktionsplan für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu erarbeiten. Denn wir müssen ja ins Handeln kommen – schließlich/endlich – also schlußendlich, will sagen: endlich Schluß – zurück zur Kunst.

In der Kunst schließlich entdecke ich einen alten Text wieder, der daran erinnert, wie wichtig, wie wesentlich das Handeln ist für unser Menschsein. Auch wenn dies schwerfällt, denn
Der Schöpfer hat unserer
Seele einen Bleiklumpen
angehängt.
J. M. R. Lenz

Kein Wunder , wenn die Menschen s o   l e b e n. Aber heißt das gelebt ? heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den Funken von Gott? Ha er muß in was Besserm stecken, der Reiz des Lebens (…):
Das lernen wir hieraus, daß handeln, handeln die Seele der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfündeln, …
Jakob Michael Reinhold Lenz:
Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz – Über Götz von Berlichingen

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001

OK; handeln ist die Seele der Welt. Fragt sich mit dem guten alten Lenin: was tun?
Wir wissen nicht, was herkömmliche 30jahre alte kunstportale empfehlen würden, aber wir empfehlen:

Kunst besuchen! Hilfreich dazu gibt es auch heute wieder unsere

guten Nachrichten aus der Kunst – vom 26. Oktober 2025:

Neu am 26. Oktober 2025: | Künstler | 24.11.2025 – 09.01.2026 | Anja Luithle | Einzelausstellung Kreissparkasse Ravensburg | Vernissage Montag, 24.11.2025; 19 Uhr: | Anja Luithle – Zeithorizonte
Neu am 26. Oktober 2025: | Städtische Galerie „Fähre“ Bad Saulgau | 14.12.2025 – 08.03.2026: | Christa Näher: Niemandsland
Neu am 26. Oktober 2025: | Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen | 22.11.2025 – 01.03.2026 | »Dem Himmel so nah – Wolken in der Kunst«
Neu am 26. Oktober 2025: | ZKM Karlsruhe | Fr, 07.11.2025; 17 – 18 Uhr | ZKM – Klangdom-Konzert im Rahmen der ARD Hörspieltage: | Amble Skuse – All Who Are Weary and Heavy Laden
Neu am 26. Oktober 2025: | Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 59 | 26.10.2025 | Rasender Stillstand