Marc Peschke unterwegs mit alpiner Perspektive
1. Wir starten in Füssen

Wasserburg am Inn; © Foto: Marc Peschke
Wir starten in Füssen. Die Allgäuer, Lechtaler und Ammergauer Alpen, der türkisfarbene Lech, der Forggensee – Mitte Mai noch nicht in voller Wasserhöhe –, eine romantische Altstadt, die Königschlösser und die barocke Wieskirche in der Nähe, all das: weltbekannte kulturelle und landschaftliche Glanzlichter. Wir finden hier im Ostallgäu an der Grenze zu Oberbayern Traumrouten für Wanderer und Radler, genauso wie Museen und historische Orte, die zum Allerfeinsten gehören, was das Urlaubsland Deutschland zu bieten hat. Die Gegend ist kein Geheimtipp, sicher nicht, sondern ein Reise-Klassiker mit Traumkulisse vor fantastischem Bergpanorama.
Wir kommen im Seehotel Hartung im zu Füssen gehörenden Ort Hopfen am See unter. Mit Seeblick, direkt an der „Allgäuer Riviera“, der bekannten Uferpromenade mit vielen Hotels, Gästehäusern und Restaurants und der großartigen Aussicht auf die Gipfelwelt. Das Seehotel ist ein sympathisches Traditionshaus mit Wellness-Bereich, das nicht nur Zimmer, sondern auch Ferienwohnungen anbietet (https://seehotel-hartung.de/).
Füssen, das direkt an der Grenze zu Österreich am Lech liegt, ist eine Alpenstadt, umstanden von Bergen, ein Drehkreuz der alten Handels- und modernen Ferienstraßen: Die Romantische Straße, an deren südlichem Ende wir uns hier befinden, die Deutsche Alpenstraße und die Römerstraße Via Claudia Augusta zwischen Norditalien und der Donau treffen sich hier. Verwinkelt, kleinteilig zeigt sich die Stadt. Gotische Bürgerhäuser, barocke Kirchen, alles in pastelligen Farben. Die Dichte italienischer Restaurants und Eiscafés ist legendär. Das hat Tradition, die Nähe zu Italien – nach Sterzing in Südtirol sind es nur 160 Kilometer – hat die Stadt geprägt. Ein kostenfreier Audio-Stadtrundgang wird via App angeboten, die „Lauschtour“ (https://www.fuessen.de/kultur/altstadt/lauschtour/).
Die ehemalige Benediktinerabtei St. Mang wurde im 9. Jahrhundert gegründet. Die barocke Klosteranlage liegt malerisch über dem Ufer des Lechs. Hier befinden sich heute die Stadtverwaltung und das Museum der Stadt unter der Leitung von Dr. Isabelle Schwarz. Zu sehen gibt es unter anderem den Kaisersaal und die feine barocke Bibliothek – und derzeit noch bis zum 6. Juli die vom Stadtarchiv Füssen konzipierte Schau „Bauernkrieg in Füssen 1525“, die das Jubiläumsjahr des Bauernkriegs und seine lokale Geschichte darstellt (https://www.stadt-fuessen.de/Kultur/Museen-und-Kunst/Museum-der-Stadt/Bauernkrieg-in-Fuessen-1525). Die barocke Annakapelle beherbergt den „Füssener Totentanz“ – ein eindrucksvoller Gemäldezyklus aus dem frühen 17. Jahrhundert, der die Macht des Todes über die Menschen eindringlich versinnbildlicht.
Hoch über der Stadt thront auf einem Bergsporn das „Hohe Schloss“. Schon im 13. Jahrhundert wurde der Bau begonnen. Einst Sommerresidenz der Fürstbischöfe von Augsburg, heute Filialgalerie der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und Städtische Galerie. Der spätgotische Bau ist schon durch seine Lage spektakulär. Vor allem aber ist der Bau bekannt für seine grandiose, illusionistische Malerei mit Schein-Erkern und Schein-Fenstern im Innenhof.
Abends dann Besuch eines echten kulinarischen Klassiker in Füssen, nämlich in der Bierstube des Vier-Sterne-Hotels Hirsch, die auch die Einheimischen überaus schätzen und wo sie sich zum Stammtisch treffen – wunderbare Melange aus Gemütlichkeit, Tradition und bester Kochkunst. Unsere Empfehlung! https://hotelhirsch.de/restaurant/bierstube
Von der Stadt führen die Wege schnell in die Allgäuer Bergwelt. Und natürlich – auf Schwangauer Gemarkung – auch zum berühmten „Märchenschloss“ Neuschwanstein und zu dem vis-à-vis gelblich leuchtenden neugotischen Schloss Hohenschwangau, von König Maximilian II. im 19. Jahrhundert zum Sommersitz umgebaut, wo König Ludwig II. viele Kindheits- und Jugendtage verbrachte.
Wir begeben uns auf Wittelsbacher Wanderwege, mit einer echten Spezialistin, nämlich Vanessa Richter von Füssen Tourismus, die zuvor im „Museum der bayerischen Könige“ in Hohenschwangau wirkte und seit Jahren auch wissenschaftlich zum Thema arbeitet (https://www.hohenschwangau.de/museum-der-bayerischen-koenige).
Viele der heutigen Bergwanderwege hat die bayerische Königsfamilie um König Max II., seine Ehefrau Königin Marie und deren ältesten Sohn, den späteren König Ludwig II., begründet. Wir wandern mit Vanessa Richter auf die „Achsel“ oberhalb von Musau in Tirol – und sie berichtet uns von der avancierten Alpinistin Königin Marie von Bayern.
Die 1825 in Berlin geborene Prinzessin von Preußen, die am 15. Oktober ihren 200. Geburtstag feiern würde, war fasziniert von den Alpen und unternahm – ein Skandal damals – ihre Wandertouren in Hosen und einem speziell für sie angefertigtem Wanderkostüm mit „Stopselhut“. Marie war eine der ersten Bergsteigerinnen überhaupt und bestieg immer wieder den Säuling – oder auch den Watzmann und viele weitere Berge der Region.
Und genau hier, wo wir jetzt stehen, am Aussichtspunkt der Achsel, gründete die Königin am 18. Juni 1844 den Alpenrosenorden. Denjenigen, mit denen sie diesen Berg erwandert hatte, wurde eine Alpenrosenblüte an einem lachsrosa Seidenband überreicht. Die Geschichte dieser Frau ist ungemein spannend – und tragisch. Sie wird mit nur 39 Jahren mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes zur Witwe. Die psychische Erkrankung ihres jüngeren Sohnes Otto sowie die Entmündigung und der frühe Tod ihres Sohnes Ludwigs 1886 führten dazu, dass sich Marie immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückzog. Sie starb 1889, doch ihre Liebe zu den Bergen ist immer noch an vielen Orten dieser Gegend lebendig – wie im Schweizerhaus in der Bleckenau, dem Wander- und Jagdstützpunkt der königlichen Familie fernab höfischer Konventionen.
Ihr Sohn Ludwig, der spätere „Märchenkönig“, teilte ihre Liebe zur Natur. Schon als Kind begleitete er seine Mutter auf ihren Touren, zum Teil auch mit seinem jüngeren Bruder Otto. München, die Stadt seiner Regierungsgeschäfte, war ihm verhasst und schon kurz nach seiner Thronbesteigung begann er, Schloss Neuschwanstein als Fluchtpunkt errichten zu lassen. Noch heute kann man seine Rückzugsorte, seine Berghütten auf von ihm erschaffenen Wegen und Brücken erwandern, wie etwa das Tegelberghaus oder die Kenzenhütte. „Nichts ist stärker für Geist und Körper als viel in Gottes freier Natur sich zu bewegen; dort oben auf freier Bergeshöhe ist die Seele dem Schöpfer näher, schöner und erhabener ist es da als im Qualm der Städte …“ So sprach er, der König.
Weitere empfehlenswerte Wandertouren auf den Spuren der Wittelsbacher führen rund um den traumhaften Alpsee oder von Füssen über den Kalvarienberg nach Hohenschwangau. Ein Klassiker ist auch die kleine Königsrunde auf dem Tegelberg. Eine weitere Rundwanderung führt vom tosenden Lechfall über den lauschigen Ländeweg und St. Anna zur historischen Hammerschmiede in Vils und über die Vilser Scharte und das Faulenbacher Tal zurück. In der Hammerschmiede war Königin Marie immer wieder ganz privat zu Gast und ging voller Freude solch banalen Tätigkeiten wie Holz hacken, „ackern“ und „buttern“ nach, wie sie stolz im Gästebuch vermerkte. Verschiedene Exponate erinnern an ihre Besuche (https://hammerschmiede-vils.at/hammerschmiede).
Szenenwechsel: Die Geschichte ihres berühmten Sohnes erzählt, seit vielen Jahren schon, das Musical „Ludwig²“. Buch und Liedtexte stammen von Rolf Rettberg, die Musik von Konstantin Wecker, Christopher Franke und Nic Raine. Es begeistert Ludwig-Fans aus aller Welt schon seit 2005 an einem ganz ungewöhnlichen Ort, nämlich dem im Jahr 2000 erbauten Festspielhaus Neuschwanstein (www.das-festspielhaus.de) direkt am Forggensee – in Sichtweite des Schlosses. Auch andere Musicals stehen auf dem Programm, doch „Ludwig²“ ist der Klassiker, der nun also 20. Jubiläum feiert. Das Stück selbst ist ständig in Bewegung, es wird immer wieder verändert und erweitert. Es gibt eingefleischte Fans, wir lernen sie persönlich kennen, die es sich bereits Hunderte Male angesehen haben!
Und nun sitzen wir im Festspielhaus und dürfen der festlichen Jubiläumspremiere der diesjährigen Sommerspielzeit beiwohnen. Das Stück läuft in vielen Vorstellungen bis Anfang Oktober und wird an vielen Abenden ausverkauft sein. Und die „Rückkehr des Königs“ ist ein echtes Ereignis: Prächtig, opulent, tragisch, mystisch ist dieses Stück, das den Grundkonflikt des Königs als große Inszenierung zeigt.
Es versucht, Antworten zu geben auf die vielen Fragen. Was ließ Ludwig II. hier seit 1869 seinen mittelalterlich anmutenden, von der Eisenacher Wartburg inspirierten Bau Neuschwanstein errichten? Diese von außen mehr noch als von innen faszinierende, ja erschreckende Architekturfantasie? Diesen so herrlichen wie überspannten, scheinbar aus einer anderen Welt in die Schwangauer Landschaft gefallenen Architekturtraum? Das berühmteste Bauwerk des Historismus?
Und das in den vergangen Jahren sehr erfolgreich laufende Stück erzählt auch davon: Die Architektur Ludwigs II. war eine Gegenarchitektur, eine Theaterwelt, eine gebaute Flucht aus der Moderne, aus den politischen Verpflichtungen des Regenten. Hier – in dieser Traumkulisse – wollte sich Ludwig wie ein mittelalterlicher Herrscher fühlen, wie ein barocker Absolutist. Das Ende, seine Entmündigung, all das ist bekannt. 1886 fand Ludwig im Starnberger See auf mysteriöse Weise den Tod. Doch sein Ruf überdauert die Zeiten, sein Schloss wurde zu einer Ikone der Weltarchitektur.

Bild links: Schloss Neuschwanstein © Foto: Marc Peschke
Ludwig war müde von seinem Amt, von den repräsentativen Pflichten als König von Bayern. Er sah sich als Monarch von Gottes Gnaden, sehnte sich nach einer absolutistischen Macht, die es im Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm I. für ihn nicht mehr gab. Bei der Ausrufung des von Preußen dominierten Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles 1871 war er nicht anwesend. Er trat nicht zurück, doch flüchtete sich in seine vielfältigen Bauprojekte.
Das Stück zeigt auf der riesigen Drehbühne des Theaters mit großem Wasserbecken all das, fokussiert, in großen und kleinen intimen Szenen auf das Innenleben des Königs und beschwört den Wunsch nach einem künstlerischen Leben – und setzt auch gerade die enge Beziehung Ludwigs zu Richard Wagner in Szene. Ganz großartig und nur kurz genannt seien Martin Markert als „Schattenmann“ und der Baritenor Matthias Stockinger in seiner Rolle als König Ludwig – er ist einer von mehreren Ludwig-Darstellern.
Nach der Vorstellung treten wir ins Freie und blicken über den Forggensee auf das Schloss Neuschwanstein. Was war das jetzt? Das Stück lässt Fragen offen, und so soll es sein: Wer ist dieser Schattenmann? Markert formuliert es in einem Interview so: „Der Schattenmann hat keinen Namen, ist kein konkreter Charakter. Er symbolisiert die namenlose, immerwährende Bedrohung.“ Unbedingt kann man dieses Stück, muss man es in dieser Zeit politisch deuten. Das Zaudern des Königs, den Preußen im Deutsch-Französischen Krieg gegen Frankreich beizustehen – das Stück deutet ihn als Pazifisten, umringt von einer Riege finsterer Minister und Waffenhändler. Und ja: Sein Tod. Es war Mord. So deutet das Stück das Ende des Märchenkönigs. Wenn der Schattenmann am Ende sagt, „Ich verkaufe Unschuld – ihr habt sie bestellt“, dann meint er damit alle, im Saal und draußen in der Welt.
Schon sieben Wochen nach Ludwigs Tod wurde Schloss Neuschwanstein gegen seinen zu Lebzeiten geäußerten Willen für den Fremdenverkehr freigegeben. Menschen aus aller Herren Länder wollen dieses Bauwerk sehen, das Königsschloss in der Traumlandschaft. Spleen eines realitätsfernen Fantasten? In jedem Fall große, ganz große europäische Kunst- und Kulturgeschichte.
Unsere zweite Station: Tölzer Land