Heraus aus meiner Haut – über Heide Hatry

Heide Hatry im Internet:
Website: www.heidehatry.com
E-Mail: h.hatry@gmail.com

Vita und Informationen über Heide Hatry

Heraus aus meiner Haut – über Heide Hatry
Heide Hatry – Heads and Tales – So der Titel ihrer Ausstellung (14. Juni bis 17. Juli 2009) im Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg.

Köpfe und Geschichten. Bestimmt assoziierten viele beim ersten Sehen des Katalog/Einladungskartenmotivs fotografische Arbeiten von Cindy Sherman.

Heide Hatry im Künstlerinnenporträt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Heide Hatry – Heads and Tales Titelmotiv/Katalogcover
© Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Vorschnell – wie sich zeigt: Trotz gewiss vorhandener sowohl ästhetischer als auch inhaltlicher Verbindungen handelt es ich um ganz verschiedene Arbeiten und Arbeitsweisen: Hatrys Heads, natürlich in der Ausstellung präsentiert als Fotografien, sind Skulpturen, aus Ton und tierischem Material: Schweinehaut, Fettgewebe, Blut, Fleisch, Schweineaugen…

Doch nicht Graf Frankenstein weckt diese zum Leben, sondern die Sprache soll dies leisten. Heide Hatry, geboren im schwäbischen Holzgerlingen, seit 7 Jahren in New York lebend, wo sie sich als Künstlerin durchgesetzt hat, hat aus ihrem großen Bekanntenkreis verschiedene wenig bekannte, aber auch berühmte Autorinnen gewonnen, die zu jeweils einer der Figuren eine Geschichte geschrieben haben.
Das Kunstwerk also ist die Gesamtheit von Skulptur und Geschichte – Heads and Tales eben.

Das passt doch haargenau, so dachte ich zunächst, in die Reihe unserer KünstlerInnenporträts, wo wir ja seit längerer Zeit suchen – nach Verbindungen und Übergängen zwischen Bildender Kunst und verbaler Sprache. Eine Kunstform wie diese hier, die beide Welten integriert, sollte uns neue Einsichten erlauben.

Zunächst war dies sehr schwierig: Bei der Vernissage gab es ein Gespräch mit der Künstlerin und der Kunsthistorikerin Dr. Kristina Hoge und auch mehrere Lesungen , doch natürlich konnten nur einige der Texte gelesen werden. Und in diesem Rahmen war es wohl keinem der sehr zahlreichen Besucher möglich, die Texte, die jeweils neben den Bildern ausgedruckt hingen, mit der gebührenden Konzentration zu lesen.

Zu sehen sind in der Ausstellung nicht die Skulpturen selbst, sondern Fotografien der Skulpturen. Heide Hatry selbst hat die Fotografien gemacht, doch spielt das Fotografieren als künstlerisches Medium hier keine entscheidende/verändernde Rolle. Die technisch hervorragenden Fotografien dokumentieren die Skulpturen, nicht mehr und nicht weniger.

Doch auch später, nach genauer Lektüre der Texte im Ausstellungskatalog: Heads and Tales, erschienen bei Charta Art Books, New York/ Mailand, 2009, will es mir nicht gelingen, die Skulpturen und die Texte dazu wirklich zu einer Einheit zu verbinden. Anstatt mit zahlreichen Beispielen viele Seiten zu füllen, kommen wir gleich zu (meiner ganz persönlichen) Schlußfolgerung: die Textbeiträge der verschiedenen Autorinnen – teils schockierend, teils erheiternd, immer berührend – reichen an die Tiefe der Skulpturen nach meinem Empfinden nicht wirklich heran. Im Gespräch mit der Künstlerin endlich wird mir klar, was die Quelle der besonderen Ausstrahlung dieser Werke ist: es ist die Haut der Köpfe – Schweinehaut.

Heide Hatry im Künstlerinnenporträt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Heide Hatry – Heads and Tales | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Heide Hatry verwendet die Haut von Schweinen; diese ist leicht verfügbar und in ihrer Struktur der menschlichen Haut sehr ähnlich. Wie ja überhaupt Schweine und Menschen einander biologisch/physisch sehr ähneln; die Nervensysteme sind nahezu identisch und nicht zufällig werden viele Experimente – etwa zur Verträglichkeit von Medikamenten – an Schweinen durchgeführt; und nicht zufällig transplantiert man Herzklappen von Schweinen in Menschen. Was bei den Schweinen funktioniert, funktioniert auch bei uns Menschen.

Heide Hatry ; © Foto: privat, VG Bildkunst Bonn 2020

So komme ich meinen Rezeptionsproblemen näher: wenn wir Tiere sehen, erleben/sehen wir Gesichter als Gattung – der gute alte Knut steht für alle Eisbären auf der Erde – nicht als Individuum.
Menschliche Gesichter hingegen sehen wir individuell. Dementsprechend versuchen die Autorinnen, Hatrys Heads Individualität zu verleihen, ihnen jeweils eine eigene, identitätsprägende oder -schaffende Geschichte – eben auf den Leib zu schreiben.
Persönliche Geschichten – verletzt, ausgesetzt, verloren – in dieser Welt, mit dem Schicksal streitend oder das Schicksal erleidend oder in die Hand nehmend…

Verbale Unterscheidungen, deren geringe Bedeutung wir erkennen, sobald wir sie formuliert vor Augen haben.
Die gewaltige Kraft der “Heads“ von Heide Hatry aber entsteht aus deren Gemeinsamkeit, deren innerer Verbindung: Denn Heide Hatrys Heads erzählen, so erlebe ich sie, neben allen denkbaren individuellen Stories, etwas, was sie verbindet – untereinander und mit mir selbst – sie erzählen Geschichten über das Menschsein: Geschichten über verletzt werden und verletzen, über ausgebeutet werden und ausbeuten, über das Sterben und über den Tod als Erlösung.
Gute Kunst erzählt mehr und viel radikaler, als dies Autoren verbal zu leisten vermögen.

Denn wir können äußere Natur und innere Natur nur verbal – und insofern hier nur scheinbar – trennen. Letztlich gehören diese existenziell zusammen, wie die Kunst uns klarer zeigt als jede Wissenschaft: Achternbuschs berühmter Filmtitel “Die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt“ weist darauf eher abstrakt hin, Dieter Roths “die Haut der Welt“ ist der konkrete Ausdruck:

Heide Hatry: Skin; © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Nicht zufällig befasst sich die Künstlerin mit dem Thema Haut: “SKIN“ war schon 2004 der Titel einer großen Ausstellung von Heide Hatry , damals in Heidelberg (Heidelberger Kunstverein). Das Buch SKIN erschien beim Kehrer Verlag , Heidelberg 2005.

Heide Hatrys aktuelle Ausstellung im DAI und das Thema Haut erinnern uns an den großen Künstler Dieter Roth: Der hatte ja erkannt, dass seine Haut – als die/seine Grenze zur Umwelt – im dialektischen Umkehrschluss nichts anderes ist als “Die Haut der Welt“.“Das Tiefste, was der Mensch besitzt, ist die Haut“ (Paul Valery; zitiert nach: Durs Grünbein FAZ vom 15. Juni 2009, Seite 27)

Der Künstler soll ja (wer hat das nur gesagt?) nicht versuchen, schlauer zu sein, als sein Material. Umgekehrt ist allemal möglich, dass gute, intelligente und mit großem Ernst betriebene Kunst über ihr Material Wahrheiten und Zusammenhänge ans Licht bringt (sichtbar macht), die auch dem Künstler selbst vielleicht erst während des Schaffensprozesses oder später bewusst werden. Vielleicht ist dies gar, obwohl schwierig vorstellbar, nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall, wenn gute Kunst entsteht.

Heide Hatry – Rugbyball, SKIN; 2005
© Skulptur und Foto: , Heide Hatry, VG Bildkunst Bonn 2020

“Die Haut der Welt” – gleichzeitig Bild und Erkenntnis der Ausweglosigkeit, des Gefangenseins unserer menschlichen Existenz.

Bevor Heide Hatry uns dies aktuell und gewaltig zeigte und bevor Dieter Roth es gezeigt und formuliert hat, haben dies auch andere erkannt – natürlich: Franz Kafka: “es gibt ein Ziel, aber keinen Weg”.

Man mag es Zweckoptimismus nennen, Ignoranz oder Dummheit:
Solange das Ziel – natürlich: Freiheit – gedacht und beschrieben werden kann, solange liegt es an mir alleine: mit der Kunst komme ich
heraus aus meiner Haut.
Jürgen Linde im Juli 2009