Vom Geheimnis der Engel – über Maike Tersch

Maike Tersch im Internet | Website: | www.tersch.eu

“Intuition ist die Gabe der Engel, zu handeln vor dem Verstehen“ zitiert Maike Tersch (sinngemäss und aus dem Gedächtnis) den Talmud.
Als “Geheimnis der Engel” wird die Fähigkeit der Intuition im Talmud gepriesen, wenn jemand den Mut hat, zu “handeln vor dem Verstehen”. (Wikipedia)
Streng intuitiv beginne ich mittendrin, weil wir erst bei unserem bisher letzten Gespräch endlich der Frage näher kamen, die mich beschäftigt, seit ich erstmals Arbeiten von Maike Tersch erlebt habe: Wie ist das möglich?

Maike Tersch im Künstlerinnenporträt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Maike Tersch in ihrem Atelier; Foto: privat

Wie ist es möglich, derart frei zu malen: Bilder, die gleichzeitig intensiv in sich hinein ziehen und distanzieren, kopfgesteuert und aus dem Bauch heraus?

Prof. Siegfried Gohr, einer der genauen Kenner der Arbeiten von Maike Tersch und neben Hans Belting einer ihrer Lehrer an der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, wo die Künstlerin studiert hat, schreibt:
“Die Bilder haben mit dem Hier und Jetzt zu tun, mit Erfahrungen und Wahrnehmungen von Menschen, Orten und den Tatsachen des avancierten modernen Lebens.“

Zwei Kunstgeschichtler also führt sie auf in ihrer akademischen Vita. Daneben Günter Förg, bei dem sie Malerei studiert hat und dann – bei Peter Sloterdijk – auch noch Philosophie.
Und, siehe oben, auch der Talmud ist ihr vertraut.
Maike Tersch, vollkommen natürlich und angenehm bescheiden auftretend, ist eine Frau, die sehr viel weiß. Unter anderem über Sprache und über Intuition.

Maike Tersch im Künstlerinnenporträt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Maike Tersch: ohne Titel, 2008; Pigment und Dispersion auf Leinwand, 150 x 160 cm | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Dem – rein intuitiv bedingten – Einstieg mittendrin verdanken wir, dass wir die erste Frage schon jetzt abschließend – wenn auch “nicht wirklich” beantworten können:

Es ist nicht möglich, “einfach so” derart frei zu malen. Genauso undenkbar, dass jemand einfach so auf dem Klavier improvisieren könnte wie Keith Jarrett. Jarrett hat den ganzen Jazz und einen guten Teil der restlichen Musikgeschichte teils im Kopf, teils (im Herzen, in der Seele..?) im Blut. Doch selbst dies ist nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedingung, um so spielen zu können. Hinzu kommen sollten noch, natürlich – Intuition. Und: Freiheit.
So bleibt uns eine schwierig-schöne Frage erhalten:
(Verdammt,) wie ist das möglich?

Aufmerksame LeserInnen könnten mir hier vorwerfen, dass diese oder sehr ähnliche Fragen in dieser Künstlerinnenporträtserie immer wieder auftauchen und wir, was deren Beantwortung angeht, auf der Stelle zu treten scheinen. Das sehe ich nicht so: Erstens denke ich, solange wir immer wieder Neu(es) sehen und uns davon bewegen lassen, treten wir nicht auf der Stelle.
Und zweitens haben wir auch immer wieder Zusammenhänge gefunden, die dieses Sehen verändern, die Strukturen einfließen lassen, die uns weiterhelfen und die uns neu entdecken lassen, so dass wir vielleicht heute tatsächlich anders sehen.

Maike Tersch im Künstlerinnenporträt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Maike Tersch: ohne Titel, 2008; Pigment und Dispersion auf Leinwand, 150 x 160 cm | © Künstlerin, VG Bildkunst Bonn 2020

Wie fragte sich einst, in einem der vielen guten Mankell-Krimis, der Fahnder Kurt Wallander angesichts einer irritierenden Vielfalt von Fakten und Daten: “Was sehe ich, was ich nicht sehe?”
Zurück zu Maike Tersch: Eine der weiteren Fragen, der wir ja in dieser Serie auf der Spur sind, ist der Zusammenhang zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher Malerei .
Maike Tersch macht für uns hierzu einen Zusammenhang sichtbar, wie ich dies so anschaulich noch nirgendwo erleben konnte. Neben den “völlig freien“ Arbeiten, mit denen wir begonnen haben, arbeitet die Künstlerin meist in Serien, die dann auch sehr konkrete Aufhänger haben können:

Viele werden sich erinnern an die überwältigende Grünewald-Ausstellung, die die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe von Ende 2007 bis März 2008 in Karlsruhe und in Colmar gezeigt hatte.
Eines der Altarbilder von Grünewald (Maria mit dem Kinde) hat sie als Ausgangspunkt genommen für eine Serie, in welcher sie, sehr stark auch inspiriert durch die unglaubliche Farbgewalt des alten Meisters, schrittweise immer abstraktere Variationen dieses Motivs geschaffen hat.

Und auch, wenn unsere Eingangsfrage – wie ist das möglich? – noch immer nicht beantwortet ist, so haben wir vielleicht doch, nach diesem Blick in den geistigen Werkzeugkasten, erste Ideen

vom Geheimnis der Engel

Jürgen Linde im August 2009