Wir sind Rotkäppchen – über Sonja Streng

im Internet: | Website: www.sonjastreng.de
E-Mail: sonja.streng@web.de

Sonja Streng | © Foto: Wildis Streng

“Spezies Rotkäppchen“ war der Titel der Ausstellung bei der GEDOK Karlsruhe, durch die ich diese Künstlerin kennenlernen konnte. Malerei und Zeichnung sind ihre Schwerpunkte. Wieder einmal zeigt schon der Ausstellungstitel, dass der Künstlerin auch die Sprache offenbar wichtig ist – das macht mich neugierig.

Sonja Streng: aus der Serie “Trautes Heim”
© Foto: Sonja Streng

Schwer (bis un-) überschaubar ist das bisher schon sehr reichhaltige Schaffen der Künstlerin, die immer seriell arbeitet. Die Werkgruppen haben Titel wie “Novemberlicht” / “trautes Heim” / “Wo, eigentlich, liegt Hilversum?” oder auch “Lieben Sie Bohnen?”

Diese Titel lassen uns vermuten, dass die jeweiligen Themen nicht ganz ironiefrei abgehandelt werden. Auf Sonja Strengs Website sind all diese Werkgruppen übersichtlich und bildreich-anschaulich präsentiert. Den Besuch dieser Website empfehlen wir unbedingt: www.sonjastreng.de

Im Text zu ihrem Katalog “Wo, eigentlich , liegt Hilversum?“ formuliert die Künstlerin selbst ein übergreifendes Leitmotiv, das ihre Arbeiten insgesamt motiviert und verbindet:
Unwichtiges wird aus seiner ursprünglichen Bedeutung in transzendentaler und vielleicht auch dadaistischer Weise in eine andere Dimension transportiert, aus der Bedeutungslosigkeit emporgehoben und seine zweckentfremdete Existenz durch das „zu Papier bringen“ bewusst gemacht und so vor dem Vergessenwerden bewahrt.“

Sonja Streng: “Rotkäppchen unterwegs I”, 2017
Acryl auf Baumwolle, 100 x 150cm | © Foto: Sonja Streng

Da wir hier im kunstportal-Porträt nicht das ganze thematische Spektrum Sonja Strengs zeigen können, müssen wir uns fokussieren und beginnen bei der Rotkäppchen-Reihe, die Streng auch als eine Art Zusammenfassung ihrer bisherigen Arbeit sieht.

Sonja Streng: “Rotkäppchen in Moskau, 2017 | Acryl auf Baumwolle | 100 x 150 cm | © Foto: Sonja Streng

“Spezies Rotkäppchen“ ist die neueste ihrer Serien, die bei aller thematischen Vielfalt in Machart und Duktus mich doch bald glauben lassen, einen roten Faden zu erahnen, an dem entlang wir Sonja Strengs Schaffen näher kommen können.

Die Arbeit in Serien ermöglicht es der Künstlerin, die Komplexität ihrer Themen, die jeweils vielfältigen Aspekte zu verteilen auf mehrere Arbeiten.

Beginnen wir mit Rotkäppchen: Manchmal genügt ein einziger Bildtitel für eine kleine “Unterserie“ :von “Rotkäppchen unterwegs“ gibt es die Arbeiten I bis V, dann folgt noch “Rotkäppchen in Moskau“, das wir als Nummer VI dieser Reihe sehen dürfen.

Sonja Streng: aus der Serie “R wie Rotkäppchen”, 2017 | Mischtechnik auf Papier | 35 x 50 cm | © Foto: Sonja Streng

Ich erlebe dies so, dass die – zeichnerisch und malerisch perfekt ausgearbeiteten – Landschaften jeweils die Wirklichkeit benennen, gleichzeitig aber deren Existenz und Bedeutung zumindest anzweifeln.

Mit der Körpersprache und Mimik der handelnden Figur stellt die Künstlerin dann fast alles in Frage: neben der äußeren Realität auch die der eigenen Identität: eine gewisse lakonisch-distanzierte Perspektive auf die Welt und grundlegende Zweifel an derselben erscheinen hier als durchgängige Befindlichkeiten, die wir der Figur im Besonderen und dann auch dem jeweiligen Bild insgesamt zuschreiben möchten.
Zweifel jedoch nicht im Sinne von Unsicherheit, nein: Zweifel aufgrund einer grundsätzlichen Befragung des eigenen Selbst – Fragen, so radikal, wie sie Kant in seinen Vernunftkritiken formuliert hat:

– was kann ich wissen?
– was darf ich hoffen?
– was soll ich tun?

Nun ist ja Sonja Streng als bildende Künstlerin der – notwendigerweise text- und kopflastigen Philosophie gegenüber im Vorteil:
Eine Künstlerin zumal, die sich die Freiheit nimmt, die letztgenannte, ganz zentrale Frage aus Kants praktischer Vernunft – gleich selbst sehr ironisch-erfrischend zu beantworten:

Sonja Streng: aus der Serie “Rotkäppchen in Gefahr”, 2017 | Mischtechnik auf Milimeterpapier | 30 x 42 cm | © Foto: Sonja Streng

– Nimm Dich in Acht vor dem bösen Wolf
– Vergiss nicht, ein paar Blumen mitzubringen
– spiel mir nicht mit dem Feuer
– und dass Du mir nicht vom Weg abkommst…
[ Bildtitel aus der Serie Rotkäppchen ]
Rotkäppchen ist auf dem Weg. Doch mit den Mahnungen der Mutter beginnt sich die Welt zu verschließen; der Weg wird enger.

Jung gehen wir erst mal auf den Weg, neugierig und offen für alles. Haben die Freiheit, alles in Frage zu stellen, die äußere Welt insgesamt, das eigene Ich sowieso.

Erwachsenwerden bedeutet dann meist, dass wir diese Freiheit weitgehend aufgeben: wir lernen, nicht mehr alles in Frage zu stellen, sondern dass es halt ist wie es ist und dass es auch so bleiben wird und vielleicht gar, dass es so sein muss, wie es ist.

Im Kontrast zu den Bildern mit der Figur Rotkäppchen verwendet Sonja Streng immer wieder stilisierte Motive aus den 50er Jahren. Enge und Spießigkeit der Erwachsenenwelt werden hier ironisch veranschaulicht.

Sonja Streng: und dass du mir nicht vom Weg abkommst…, 2017 | Mischtechnik auf Tapetenpapier | 33 x 50 cm | © Foto: Sonja Streng

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Die Kunst öffnet uns andere Perspektiven, dass alles auch anders gesehen werden kann, also auch anders sein könnte. Deshalb ist Kunst auch politisch. Die Kunst allgemein zeigt uns die Kontingenz der Welt allgemein und auch die der eigenen Sicht, der eigenen Identität.

Was das alles mit uns zu tun hat, veranschaulicht Sonja Streng durch ihre hochkomplexen Arbeiten:

Wir sind Rotkäppchen.
Jürgen Linde im Juli 2018