Wir berühren ein Universum – über den Literaten Martin Schmitt

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Martin Schmitt – die älteren unter den kunstportal-bw-LeserInnen kennen ihn längst: Martin Schmitt war der erste Künstler, der in einem kunstportal-Künstlerporträt vorgestellt wurde. Der Mann, der gleichsam diese Porträt-Reihe begründete und den ich kennen lernte als bildenden Künstler – durch eine Ausstellung mit Bildern und Skulpturen im Durlacher Gründerzentrum.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Reisen, vorzugsweise nach Paris, gehörten schon immer zu den Inspirationsquellen von Martin Schmitt. Gerade war er wieder dort, wie obige Impression “Frühstück in Paris” veranschaulicht. | © Bild: Martin Schmitt, VG Bildkunst Bonn, 2020

Damals (1996) schon war Martin Schmitt keineswegs “nur“ Maler und Bildhauer, sondern Künstler in einem umfassenderen Sinne. Formal nicht einzuordnen, legte er selbst großen Wert darauf, frei zu sein in der Wahl seiner künstlerischen Mittel. Schreiben, Musik, Fotografie gehören zu seinem Repertoire genauso wie die Malerei und die Bildhauerei

Der Künstler selbst formuliert dies ganz klar und explizit:
“Ich nehme mir die Freiheit der vielfältigen Wege, mich einer Botschaft zu nähern, sie zum Ausdruck zu bringen. Die Botschaft selbst sucht sich die Öffnung aus, aus der sie herausplatzen will. Ich bewege mich ans Ziel, wie auch immer. Eine Form allein ist Einschränkung.”

Heute, 14 Jahre später, gilt dies für Martin Schmitt nicht weniger als damals. Dennoch stimmt mir der Künstler spontan zu, als ich vermute, dass derzeit das Schreiben, die Literatur, einen klaren Schwerpunkt bildet in seiner künstlerischen Arbeit.
14 Jahre später bedeutet für uns auch: über Hundert Künstlerporträts später. Aus Gründen, die unsere aufmerksamen LeserInnen kennen, haben wir das inhaltliche Spektrum dieser Porträtreihe vor einiger Zeit erweitert eben auf das Feld der Literatur, insbesondere der Lyrik.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt

So war die Idee naheliegend, erneut über Martin Schmitt zu schreiben, dabei jedoch ausschließlich seine literarische Arbeit in den Fokus zu rücken. Diese gemeinsame Entscheidung fiel bei der letzten Lesung von Martin Schmitt, die ich am 06. März 2010 auf der UND#5 – der Karlsruher Parallelmesse zur “art karlsruhe“ miterleben durfte.
Vom letzten Stück, das er vortrug, gibt es auch ein Video auf Youtube, das anzusehen und zu hören ich vorab jedem unbedingt empfehle: www.youtube.com

Ein umfassenderes Bild der Arbeit von Martin Schmitt bietet sein Youtube-Kanal: www.youtube.com/user/DerPaulBlau

Es war ein Erlebnis, Martin lesen zu hören. Hilfreich in einem ironischen Sinne war der Rahmen: vor Schmitt las ein anderer Autor, dessen Namen ich mit nicht gemerkt habe. Ein junger Mann, der auf der Bühne herumsprang, dabei undeutlich sprechend und schon akustisch für niemanden verständlich.

Und dann, in überdeutlichem Kontrast, kam Martin Schmitt auf die Bühne und er begann mit folgendem Text, den er hochkonzentriert und exakt artikulierend vorgetragen hat:

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt, VG Bildkunst Bonn, 2020

Verändere
Verändere, verändere, verende nicht am Ende, wandle, wandle Wege, Wege wandeln dich, wandle dich, ummantle dich mit Warm, mit Kalt, mit All, mit allem, wandle dich.
Verändere, verändere, ändere dich, dann änder ich mich, dreh um Drehwurm, drumrum geht um, du sprichst, du schweigst, du lachst, du schreist, du weißt.
Verändere, verändere, schwing auf dich, flügle, fliege hoch und fall und fang dich wieder, fliege wieder, genüge nicht, genüg dir nicht, verändere, verändere dich und ende nicht.

Nach wenigen Worten schon hatte sich die Atmosphäre im Raum gewandelt: aus Hektik wurde Ruhe und Konzentration. Was hier passierte, kann mit einem Begriff, den ich nicht mag, vielleicht am besten erklärt werden: Entschleunigung. Martin Schmitt las diesen Text natürlich langsam und deutlich. Mit Respekt gegenüber den Worten, der auch Respekt gegenüber den Zuhörern impliziert. Die Zuhörer wiederum, ich denke, hier nicht nur von mir selbst zu sprechen, empfanden es als wohltuend, die Worte wirken zu lassen, zu horchen – nach außen wie nach innen.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt, VG Bildkunst Bonn, 2020

Ein hochinteressanter Prozess, den wir vielleicht noch genauer verfolgen sollten. Offenbar finden sich hier Analogien zur Bildenden Kunst. So wie diese den Betrachter braucht, bedarf die Literatur des Lesers oder besser noch: des Zuhörers.
Deutlich wird gerade bei einer Lesung, wie wichtig – neben den Worten selbst, neben den Inhalten der Texte – die Artikulation derselben ist, wie sehr erst aus der besonderen Betonung, der Aussprache und der Geschwindigkeit des Sprechens die Bedeutungen erlebbar werden.

Wenn ein gutes Buch, ein gutes Gedicht, ein guter Text selbst ein Kunstwerk ist, so ist die Lesung durch den Autor selbst, gegebenenfalls natürlich auch durch einen Schauspieler oder einen anderen (möglicht begnadeten) Sprecher deren optimale Vermittlung.

Vielleicht erklärt sich hieraus der große Erfolg der “Hörbücher“, die ja offenbar doch nicht nur deshalb interessant sind, weil man sie auch im Auto nutzen kann. Hier wird der Leser zum User und der Text verhindert unnötige Zeitverschwendung, etwas, das wir uns bekanntlich auf gar keinen Fall leisten können.
Leider bleibt uns keine Zeit, den sehr interessanten Begriff der Zeitverschwendung, der – anders als etwa Geld- oder Energieverschwendung – einer kritischen Überprüfung wert wäre, hier genauer zu hinterfragen. Zeit für Kunst aber ist gewonnene Zeit und so wollen wir uns Martin Schmitts Texten zuwenden.

Auch innerhalb des Schreibens bewegt sich Martin Schmitt souverän außerhalb formaler Festlegungen und die mir am besten erscheinende Erklärung seiner Arbeit liefert der Künstler selbst:
Eine Lesung mit assoziativer Lyrik und Prosaminiaturen: Bilder des zufälligen Beobachtens, kleine Einblicke, einzelne Gedankensplitter oder Anfänge von Geschichten, welche der Zuhörer weiter denken darf. Und dennoch ist jede dieser lyrischen Miniaturen ein Ganzes, das auf seine Weise eine Welt erschafft. Immer wieder erscheint das Motiv des Vorübergehens und der Wandlung.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt, VG Bildkunst Bonn, 2020

Wasserfleck 1

Ich bin ein Wasserfleck auf deinem Papier, und bevor du mich bemerkst, bin ich eingedrungen in dich, bin ich in dir verschwunden. Und ich hör dich aus der Ferne sagen, dass es mich gar nicht gegeben hat, doch: ich habe dich berührt, ich weiß, wie deine Poren sich mir lächelnd zugewendet haben. Du versuchst mich weg zu wischen wie einen Regentropfen aus deinem Gesicht, aber ich bin schon durchgesickert in deine Tiefe. Du weißt nicht, wie sehr du mich brauchst, um deine Farben neu zu mischen. Ich bin der Rest vom Winter, der nach dem Tauwetter bleibt. Ich bin ein Wasserfleck auf deinem Papier, ich nähre dich mit mir, ich nähre dich, ich finde eine Öffnung, auch du bist durchlässig, und wenn du mir mit einem Löschblatt kommst, dann hab ich mich längst schon unter dir verkrochen, unsichtbar löse ich dich auf, ich trockne nicht, ich verdünne dich, ich trockne nicht, ich verflüssige dich, ich trockne nicht. Und das, was von mir übrig bleibt, ist mein kleiner Versuch, dir nahe zu sein.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt, VG Bildkunst Bonn, 2020

Weil wir nicht messbar sind

bis zum letzten unserer Blutströme,
selbst wenn sie uns das Hirn aufschneiden,
werden sie das Herz nicht finden,
das, was mehr ist als der perfekte Apparat,
werden sie niemals finden,
weil wir nicht ersetzbar sind,
nicht durch die schönste Computeranimation,
nicht durch das beste Chatroom,
weil wir fehlbar sind,
sind wir nicht messbar,
weil wir nicht ersetzbar sind,
sind wir nicht messbar,
weils in uns kocht,
und in uns heult,
und in uns kotzt,
weils in uns schreit,
und in uns lächelt,
und in uns trauert,
weils in uns freut,
und in uns sehnt,
und in uns liebt.

Dieses tagtägliche Tun. Dieses immer Tagtägliche, Alltägliche. Dieses nichtsnutzige Vor-sich-hin-Treiben. Oder noch nicht einmal treiben.
Sie führte ein Leben nach der Armbanduhr. Ein Leben mit Zetteln. Ein Leben ohne Unwägbarkeiten. Wie sehnte sie sich nach Zufall. Oder danach, einfach einem Gedanken nachzuspinnen. Aber sie fühlte doch immer ihre eigene Begrenztheit. Lediglich auf der Autobahn, wenn sie weder Musik noch Radio hörte, da war es ihr manchmal, als würde sie durch den Horizont hindurch auf etwas Größeres schauen, auf etwas wie einen Fluss. Und der ein oder andere Gedanke wurde weitergedacht, und so manches Begehren war für sie sogar körperlich spürbar.
Nichts wünschte sie sich mehr als eine Unterbrechung, und wenn es ein Einbrechen wäre in eine andere Art von Raum. Manchmal hatte sie den unbändigen Drang, sich zu verstecken. So betrat sie diese Umkleidekabine, eine ganz altmodische aus Holzgestänge mit weißen Stoffbahnen dazwischen. Sie ging hinein und bemerkte, dass es dort noch nicht einmal einen Spiegel gab, um sich zu betrachten. Alles war ein bisschen anders. Aber das machte ihr nichts aus, war ihr doch selber ganz so zumute. Es brauchte diesen abseitigen Ort. Wie hatte sie innerlich danach verlangt.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Weil wir nicht messbar sind

Auf dem Sitzbänkchen in der Kabine lagen ein paar weiße Handschuhe, ganz so, als ob sie jemand vergessen hätte. Sie wurde von dem dringenden Wunsch erfasst, sich diese Handschuhe über die Finger zu streifen, und sich danach erst zu entkleiden.
Langsam und genüsslich zog sie sich ihre Kleider vom Leib, eins nach dem andern, und sie bemerkte, dass sie, als die Socken am Boden lagen, ihre Füße nicht mehr erkennen konnte, und als sie ihre Hose abstreifte, gingen ihr die Beine verloren, und so ging es fort, bis auch ihr Oberkörper nahezu verschwunden war. Es belustigte sie, dass ihr Unterleib mit dem Schlüpfer und ihre Brüste, die von ihrem Büstenhalter bedeckt waren, nun quasi die einzigen Körperteile zu sein schienen, die ihr noch vorhanden waren. Aber als sie sich dieser letzten Kleidungsstücke entledigte, waren auch diese Reste irgendwo hin gegangen. Da strich sie sich übers Gesicht und über die Haare, dann tastete sie nach der Sitzbank, um die weißen Handschuhe zurück zu legen, denn sie konnte ja nichts mehr sehen, da ihr auch die Augen entfernt worden waren. Am Boden befanden sich noch ihre alten Kleider, recht wild verstreut, aber das war nun nicht mehr wichtig. Sie war verschwunden, und das fühlte sich gut an. Und sie wusste, sie würde irgendwo anders wieder in ähnlicher Weise zurück erscheinen, aber dazu bedurfte es noch einiger Türen, die zu durchwandern waren, und sie hatte im Moment keinen blassen Schimmer davon, wo sich diese Türen oder eine ähnliche Umkleidekabine befinden sollten, und so blieb sie vorerst einmal einfach verschwunden.

Allesnichts

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg

Die Photographien von Sebastiao Salgado,
die Filme von Bunuel,
der Pförtner des Hotels, der in einem Abfallkorb wühlt,
der Kellner einer nicht bemerkenswerten Kaschemme am Pont de Levallois,
der uns nachruft: ihr seid nicht verloren!
der Regen, der aus einem ahnungslosen blauen Himmel stürzt,
die Alten, die mit ihren ausgefüllten Lottozetteln das große Glück kaufen,
um aus der hoffnungslosen Vorstadt davon zu fliegen.

Wir ahnen etwas,
wir scheinen durchgebrochen zu sein durch die Wand,
mit einem Finger,
einer Hand gar
zu fühlen,
daß jedes zu jedem gehört,
daß die Anmaßung von heute
morgen das heulende Elend sein kann, aber nicht muß,
eine Feder, ein Schmetterlingsflügel, ein Preßlufthammer;
wir ahnen etwas,
wir berühren ein Universum,
Welten streifen sich,
rempeln sich an,
Kontinente bersten,
verschlucken sich,
schmiegen sich aneinander.
Das Auffliegen eines Vogels
entspricht dem Todesschrei eines Kindes,
das orgasmische Stöhnen
entspricht dem letzten Seufzer eines Todkranken,
Peitsche und Wollfaden sind sich so nah,
daß sie sich umarmen könnten.
Wir sind nichts, heute.
Wir sind alles, morgen.
Wir sind übermorgen genau die gleiche Frage.
Wir greifen nach dem Stern oder
der Stern greift nach uns.
Allem sind wir nah,
alles ist uns nah
– und nichts.

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
Weil wir nicht messbar sind

Vielköpfiges Wesen Wirklichkeit. Wir passen beide ins Innere einer leeren Weinflasche. Wenn ich mich verschlüssle, hilft dir auch kein Korkenzieher weiter. Der Mund, der auf meinem Rücken aufgemalt ist, lacht über deine Ernsthaftigkeit. Die Augen, denen du vertraust, haben bald schon die Farbe gewechselt. Und glaubst du, ich beschreibe, was ich seh? Und glaubst du, ich erzähle, was ich bin? Wir beide sind aufs Rad gespannt und landen auf irgendeiner andren Seite.

Vielköpfiges Wesen Wirklichkeit. Ich tummle mich auf deiner grünen Wiese. Es ist ein Festtag. Genieße die Dauer, Gelegenheitsschneewittchen, wie schnell hat dich der Augenblick gestellt und du blickst weiterhin nur einem vergeblichen Laufsteg hinterher. Schau den Tisch von der Seite an und die Teller regnen auf dich herab. Und glaubst du, ich beschreibe, was ich seh? Und glaubst du, ich erzähle, was ich bin? Wir beide nehmen die uns zugewiesenen Plätze ein, bis einer den Würfelbecher schüttelt, dann gibt es uns nicht mehr.

Vielköpfiges Wesen Wirklichkeit. Der Satz, an dem du dich heute festhältst, bedeutet morgen, dass ich einem anderen Schaufenster meine Aufmerksamkeit schenke. Was Schnee ist und weich, ist eine schmutzige Pfütze, wenn der Pegel auf dem Thermometer steigt. Genehmige dir eine halbe Minute Glück, bis das Uhrwerk von Neuem beginnt. Wer außer uns hätte eine Ahnung von den Abgründen des Meisters und von den verborgenen Münzen in seiner Hand? Und glaubst du, ich beschreibe, was ich seh? Und glaubst du, ich erzähle, was ich bin? Ich male eine Weltkarte auf die Oberfläche eines Sees, und von meinem Aquarell bleibt am Ende nur ein Wasserfleck.

Martin Schmitts Arbeiten sprechen für sich selbst. Ich habe versucht, Texte auszuwählen, die meine Eingangüberlegungen über die Veränderung unserer Wahrnehmung der Zeit durch Kunst hoffentlich anschaulich machen. Es geht letztlich nicht um Langsamkeit, sondern mehr um Synchronisation, um die Übereinstimmung (der Geschwindigkeit) des Wahrnehmnes und der eigenen Geschwindigkeit.

Ich habe dies immer wieder festgestellt etwa in Gesprächen über Filme: die Filme; die ich besonders gut finde, zeichnen sich (unter anderem, natürlich) aus durch das (für mich) genau richtige Erzähltempo.

Das richtige Tempo erscheint mir so wichtig, weil es selten gelingt. Und es ist doch nur ein Element des Ganzen – die Bilder (Kamera), die Schauspieler, – alles muss stimmen, damit das Ganze gut wird..

Martin Schmitt im SWO | Kunstportal Baden-Württemberg
© Bild: Martin Schmitt

Auch Martin Schmitts Lyrik lebt sicherlich mehr aus ihrem Inhalt. Für mich stehen hier Achtsamkeit und Liebe thematisch im Mittelpunkt.

Die “Lesung”, die ich anfangs als optimale Vermittlungsform lobte, hat den großen Vorteil, daß sie diese Synchronisationsleistung vollbringt: den Text, die Wahrnehmung der Zuhörer und die Zuhörer jeweils selbst mit sich in einen Einklang zu bringen.

Wenn dies gelingt, scheint alles möglich – mit einer Zeile von Martin Schmitt (aus “Allesnichts“) möchte ich zusammenfassend sagen:

Wir berühren ein Universum

Jürgen Linde, im Mai 2010