Porträt von Vivien Sigmund über Maria Grazia Sacchitelli
mit einer Einleitung von Jürgen Linde
Um einen Überblick zu erhalten über das vielfältige Werk von Maria Grazia Sacchitlli empfehlen wir die sehr gut strukturierte Website der Künstlerin, wo Sie auch erhellende Texte zu ihrerArbeit von Kunsthistorikern finden: https://maria-grazia-sacchitelli.de
Maria Grazia Sacchitelli im Internet: Website: | https://maria-grazia-sacchitelli.de
E-Mail: | mg.sacchitelli@t-online.de
quecksilbrig im Fluss
Was genau ist eigentlich Malerei?
Mit dieser Eingangsfrage beginnt die Stuttgarter Kunsthistorikerin Vivien Sigmund ihre Einführungsrede zu Maria Grazia Sacchitellis Ausstellung “flux” (Städtische Galerie Filderstadt, 2013); siehe unten.
[Vielen Dank an Vivien Sigmund dafür, dass wir hier ihren Text verwenden dürfen.]
Mit ebendieser Frage – ausgeweitet noch auf das Thema Kunst insgesamt – befassen wir uns hier im kunstportal-bw seit 26 Jahren, in inzwischen über 260 Künsterporträts, die viele von Ihnen regelmäßig lesen, mancher schon seit dem Serienstart im Jahr 1996. Wir können diese Annäherung an die Kunst als eine lange Reise beschreiben, erlebnis- und bestimmt auch oft lehrreich; unterhaltsam hoffentlich, manchmal vielleicht gar abenteuerlich.
Bevor wir Vivien Sigmund, die sich sehr intensiv und kompetent mit der künstlerischen Arbeit von Maria Grazia Sacchitelli befasst, ausführlich zu Wort kommen lassen, möchte ich diesen Gedanken – Kunst als Reise, als Erzählung, als Erlebnis – einleitend ein wenig vertiefen:
Das umfangreiche und weiter wachsende Oeuvre Sacchitellis erlebe ich selbst als narrativ, als erzählerisch. Durchaus können wir uns die einzelnen Werkgruppen als große Etappen, als “Kapitel“ vorstellen, die selbst wiederum eigene Erzählungen beinhalten. Das Gesamtwerk könnte dann später, um im Bild zu bleiben, als ein Romanzyklus beschrieben werden.
Die einzelnen Lebensabschnitte haben darin ihr eigenes Recht; manchmal auch ihre besondere Sprache, beschreiben eine jeweils eigene Welt.
Dabei sei der Hinweis erlaubt: was heute gerne – nicht ohne avantgardistischen Anspruch – modisch als immersive Kunst beschrieben wird, kennen wir lesenden Menschen schon immer: viele lasen als Kinder vielleicht (oder bekamen – als wohlbehütete Kinder – sogar vorgelesen aus) „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“. Michael Ende schuf damals immersive Welten, lange bevor es diesen Begriff gab. Wir tauchten ein und ließen uns – lustvoll und fasziniert – entführen.
Auch die Kunst von Maria Grazia Sacchitelli entführt uns, wenn wir es zulassen. Vivien Sigmund erklärt uns, wie die Künstlerin dies schafft: (Jürgen Linde, 2023)
Einführung von Vivien Sigmund zur Ausstellung Maria Grazia Sacchitelli „flux“
(Städtische Galerie Filderstadt, 07.07.2013)
Was genau ist eigentlich Malerei? Diese Frage lässt wohl erst einmal jeden zusammenzucken. Denn was auf diese Frage gerne folgt, sind Unmengen unvereinbarer Theorien, Meinungen und Moden. Wikipedia macht es sich da leicht und sagt: „Malerei ist das Festhalten von Gedanken des Malers; dies geschieht im Gegensatz zur Zeichnung durch das Aufbringen von feuchten Farben mittels Pinsel, Spachtel oder anderer Werkzeuge auf einen Malgrund.“ Nun, wir werden sehen. Lange Zeit war die Malerei ohnehin beinahe synonym zu sehen mit einem Abbilden der Natur. Doch werfen wir einen Blick auf die Geburtsstunde der Abstraktion. Einer ihrer Pioniere, der eng mit Stuttgart verwobene Adolf Hölzel, hat die künstlerischen Mittel, also Farbe, Form und Bildformat, rigoros vom abgebildeten Gegenstand getrennt und definierte revolutionär das Bild „als eine Welt für sich“. Die Farbe also wurde um kurz nach 1900 aus ihrem sklavischen Dasein befreit. Nach 1945 – und hier sei als Beispiel der mediale Überflieger und abstrakte Expressionist Jackson Pollock mit seinen Drip Paintings genannt – verwachsen Farbe und Leinwand zu einem Objekt. Das Bild wird Ding und die Natur ist in soweit involviert, als dass der Künstler als genuiner Schöpfer des Werks Teil der Natur ist. Vor allem bei Pollock wird der Schaffensprozess als Direktverbindung zwischen Unbewusstem und bildnerischem Ausdruck postuliert. Diese persönliche Komponente bricht die Künstlerin Lynda Benglis in den 60er Jahren auf. Indem sie Latexfarbe direkt aus dem Eimer auf den Bildträger leert, sinkt ihre Einflussnahme und die direkte Auseinandersetzung mit dem Bildwerk wird wichtiger als der Prozess. Und es dauert nicht lange, da schüttete sie flüssiges Plastik direkt auf den Boden. Von hier können wir endlich eine direkte Linie zu den Arbeiten von Maria Grazia Sacchitelli ziehen.
Maria Grazia Sacchitelli ist eine Künstlerin, die projektbezogen arbeitet. Sie findet erst ihr Thema und sucht dann nach den Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks. So ist ihr Werk formal durchsetzt von Installationen, Fotomontagen, Videos und Interventionen, doch den so unterschiedlichen Arbeiten liegt unsichtbar eine wenn auch nicht gleiche, so doch artverwandte Fragestellung zugrunde. Es geht Sacchitelli im weitesten Sinne um innere Prozesse, um die abstrakte Ambivalenz von – in Ermangelung eines treffenderen Wortes – Gefühlszuständen und Konventionen. Eine Auswahl ihrer neusten Arbeiten ist nun hier in der Ausstellung versammelt. Confluence heißen die mehrfarbigen Arbeiten, in denen der Fluss der Farben selbst zum Bild wird. Hier löst die Künstlerin die Farbe gänzlich von ihrem Träger. Was wir sehen ist reine Farbe, extrahiertes Material, pure Sinnlichkeit. Keine Leinwand liegt der Farbe zugrunde. Die Unmittelbarkeit von Farbe wollte dir Künstlerin erfassen, die sich seit dem Studium nicht mehr mit Malerei beschäftigt hat. Sie suchte und sie fand eine latexbasierte Gießfarbe aus dem Theaterbedarf, die erst flüssig, sich schließlich weich gummiartig verhärtet und als autonomer Farbklecks zur Form wird, zum Farbkörper. Das ist ebenso sinnlich wie konzeptuell. Hölzel hätte seine Freude an der Bildhoheit der Farbe. Und Pollock würde staunen über die permanente Oszillation dieser Farbkörper wischen Bild und Objekt. Indes sind es bei Sacchitelli vor allem die bildimmanenten Verhältnisse, die sie interessieren. Wie viel Konzeptualität, wie viel Expressivität passen gleichzeitig in ein und dasselbe Bild? Nähert sich der Betrachter besser fühlend oder denkend? Und ist nun der Gestaltungswille der Künstlerin dominanter oder der des Materials? Denn die Wirkung ist nicht nur Farbzusammenfluss, sie ist zugleich geronnene Bewegung. Fast wie ein passives Action-Painting breitet sich der Farbverlauf nachvollziehbar vor uns aus, doch die Aktion der Künstlerin bleibt, anders als bei Pollock, eine vage Frage, frei nach dem Motto Ernst Barlachs: „Die große Freiheit des Künstlers ist, dass er keine hat, versteh´s, wer kann“.
Das Bildwerk erscheint daher beinahe wie ein Äquivalent der Natur, deren Bewohner sich im künstlerischen Biotop ein Stück evolutionären Freiraum erkämpfen. Ähnlich selbstbewusst wie gegen sich selbst und den Willen der Künstlerin behauptet sich die Farbe auch gegenüber jenen vereinzelten Alltagsobjekten, mit denen sie in „Confluence related“ konfrontiert wird. Die Farbe erscheint auch hier als gleichberechtigte Form. Doch zurück zur Evolution: Mit Licht fing alles an, die Welt wie die Kunst. Als Gründungsmythos der Malerei wird von Plinius die Geschichte der Tochter des Töpfers Dibutades überliefert, die versucht, das Bildnis ihres Geliebten nach einer Schattenzeichnung festzuhalten, bevor dieser in den Krieg zieht. Mit der dieser Ausstellung den Titel gebenden Serie Flux kommen nun auch wir beim Licht an. Denn die Arbeiten der Serie Flux, wie sie sehen, beherbergen nicht das Ineinanderfließen mehrerer Farben, sie bestehen aus nur einer einzigen Farbe. Der Schwerpunkt des Betrachtens wird vom Kuriosum, dass hier nichts als Farbe an der Wand hängt, abgelenkt und hingeleitet zur Materialität dieser Farbe.
Hauchzart und stofflich wie Tücher wirken diese Arbeiten und offenbaren dabei eine beinahe überweltliche Transparenz. Je nach Einfall des Lichts verändern sie sich, erscheinen mal massiver, mal leichter, mal wie selbst mit reinem Licht gemalt. Und was ist Farbe anderes als ein subjektiver Sinnenreiz, der durch Licht in verschiedenen Wellenlängen hervorgerufen wird? Hier wird unsere Wahrnehmung auf die Probe gestellt und unser Gefühl für das Paradoxe. Denn die Arbeiten sind Licht und Material zugleich.
Sie legen sich in einen wunderschönen Faltenwurf, offenbaren sanft eine eigene Struktur oder den vagen Duktus der Künstlerin, die das Latexgemisch stellenweise mit dem Pinsel verstrichen hat, so dass Handschrift und Material in eins fließen. Es gibt Schichten zu erkunden, Verdickungen, Randstrukturen wie Küstenlinien, Oberflächen wie Haut. Beinahe wie lebendige Organismen schmiegen sich die einzelnen Werkstücke hier an die Wände, agieren mit den räumlichen Gegebenheiten, aber es würde einen nicht wundern, wenn sie nach dem nächsten Blinzeln ganz woanders wieder auftauchen würden.
Was also ist Malerei? Wenn Wikipedia die Grenze ist mit der Definition von Bildträger und Pinsel, dann ist die Malerei längst über die Ufer getreten, suchend nach Möglichkeiten, fragend nach der eigenen Beschaffenheit, quecksilbrig im Fluss. Viel zu beweglich für die eigene Definition.
Vivien Sigmund, 2013
Vivien Sigmund beendet ihre erhellenden Ausführungen vielleicht nicht zufällig mit einem Bild, das für mich erneut Reise-Assoziationen evoziert, weshalb ich damit dieses Porträt insgesamt betiteln möchte:
quecksilbrig im Fluss.
Jürgen Linde im August 2023