Tanz des Glasperlenspielers

über den Bildhauer Camill Leberer

Auf sehr poetische Weise schön, atmoshpärisch dicht und gleichzeitig irritierend. Der erste Eindruck war geprägt von den Lichtskulpturen Leberers. Mit offenbar einfachen Formen – Linien, rechtwinkelige Vierecke, Linien, wenige Farben – erschafft der Künstler vorwiegend aus Plexiglas und Stahl Skulpturen, die dann kaum mehr einfach anmuten – eher im Gegenteil: überkomplex. Und, im besten Sinne, exakt und perfekt.

Dies erinnert mich an einen Freund, den leider vor zwei Jahren gestorbenen Karlsruher Künstler Wolfgang Gießler. Wolfgang war radikal perfektionistisch in der Präsentation seiner Kunst. Seine meist der konkreten Kunst nahen Werke selbst aber waren inhaltlich inspiriert von der Lehre des japanischen Zen-Buddhismus – dem Wabi-Sabi, wo es – in etwa – darum geht, in den ganz einfachen – meist nicht “perfekten” – Dingen Schönheit und Anmut sichtbar zu machen.

Hermann Hesses Siddhartha war für Gießler eine Art Seelenverwandter. Das wichtigste Buch von Hesse, den ich zuerst als Philosophen (weniger als Erzähler) sehe,  ist für mich das Glasperlenspiel. Hier nähern wir uns Camill Leberer: Ähnlich wie ein Glasperspieler kraft seines großen Wissens in der Lage ist, kultur- und religionsgeschichtliche Entwicklungen in Zusammenhängen zu sehen und neu zu „setzen“, so scheint der Künstler Leberer eine Vielzahl von Elementen/Faktoren neu zu integrieren, um seine Werke zu schaffen.  „Einfachheit“ erscheint hier als Ausgangspunkt, um dann mal als Illusion entlarvt, dann aber auch wieder als Ergebnis präsentiert zu werden. Das kunsthistorische Wissen und die Kenntnis wohl aller künstlerischen Werkzeuge bilden den mächtigen Werkzeugkasten, aus welchem heraus der Künstler virtuos komponiert – wie Adrian Leverkühn – Musik direkt in die Seele der Menschen. Mit Dr. Faustus holen wir nun auch den großen Erzähler Thomas Mann auf das Spielfeld der Assoziationen.

Doch erinnern wir uns: wer “seinen Faust“ gelesen hat und noch immer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, dessen Seele lebt gefährlich.

Als Bildender Künstler ist Leberer, der im Breisgau geboren wurde und in Stuttgart lebt, schon lange über die Grenzen des Landes und auch über nationale Grenzen hinaus bekannt und etabliert: er fertigt Bilder und Zeichnungen, dreidimensionale Wandobjekte und raumgreifende Skulpturen, die wir oft auch der Lichtkunst zuordnen können.

Gleichzeitig ist der Künstler, der sich nicht als Literat oder als Schriftsteller bezeichnet, auch Poet: er schreibt Gedichte.

Klarerweise sind die beiden Werkgruppen getrennt voneinander zu behandeln – als jeweils ganz eigenständige Komplexe. Weder illustrieren noch gar interpretieren die Gedichte Leberers dessen bildhauerische Werke noch umgekehrt.

Und dennoch: bei unserem Versuch, die Künstlerpersönlichkeit Camill Leberer zu verstehen, ist die Frage erlaubt nach einer „großen Klammer“: Können wir womöglich die die so verschiedenen Wege des künstlerischen Ausdrucks auf eine gemeinsame Motivtion zurückbeziehen oder haben etwa beide Werkkomplexe eine gemeinsame, verbindene “Zielrichtung“?

Mir selbst erscheinen solche Fragestellungen durchaus legitim und letztlich wohl sogar unvermeidlich. Ferner denke ich, dass wir uns der Kunst (dem Verständnis der Kunst) annähern weniger durch Methoden der empirisch-analytischen Wissenschaften, sondern mehr assoziativ und intuitiv – Schauen wir uns also zuerst einige Werke von Leberer an: schnell sehen wir, dass es einmal mehr ambivalente, gegensätzliche Elemente sind, die unsere Aufmerksamkeit wecken: Hell und Dunkel, Licht und Schatten; oft auch Innenraum und Außenraum: der eine existiert nicht ohne den anderen.

Dialektische Beziehungen also sind es, mit denen der Künstler wohl gleichermaßen für sich selbst und für uns Betrachter die Wirklichkeit und unsere Wahrnehmung beschreibt. Dabei stellen sich kritische Fragen: etwa nach dem, was wir eigentlich sehen und nach meinem Empfinden immer auch die Frage nach dem Raum der Möglichkeiten, der bei einer solchen kritischen Befragung eröffnet..

Klingt überkomplex? Ja genau, ebendies war meine Absicht: Leberer zeigt die hohe Komplexität der Gegenstände unserer Betrachtung, die er dann in hoch höherem Abstraktionsgrad rekonstruiert: Assoziative Vielfalt und breitgefächerte Interpretationsmöglichkeiten erscheinen mir als ein wesentliches Element sowohl der bildnerischen als auch der textuellen Praxis des Künstlers.

Wenn der Bildhauer Leberer etwa in seiner Skulptur Glashaut die Grenzen verschwommen macht zwischen Innen – und Außenraum und zwischen Transparenz und Intransparenz, so spiegelt diese künstlerische Vorgehensweise ja gleichzeitig unsere eigenen Selbstbefragungen.

In den lyrischen Texten des Künstlers wird dies womöglich noch klarer: hier verbindet Leberer die sprachlich- sinnliche Suggestivkraft, die wir uns von der Poesie gemeinhin wünschen, immer wieder auch mit dem Eindruck hochreflektierter Gedanken, deren Quintessenz nun das im Gedicht formuliert (formuliert im Sinne von „Sichtbarmachen“.

Ein Beispiel:

Dann bin ich Du und

Du bist ich.

Ich ist weit entfernt.

Für die Analyse/Beschreibung zwischenmenschlichere Beziehungsgeflechte, die Camill Leberer hier anschaulich macht, hätten wissenschaftliche Autoren wie etwa Sigmund Freud oder Erich Fromm jeweils ein eher dickes Buch gebraucht.

Wissenschaft und Kunst: aus der Sicht, die Goethe in Faust entwickelt, könnten wir hier zwei alternative Erkenntnis-Strategien sehen: Die Wissenschaft jedoch ist angewiesen ist auf Distanz zu ihren Gegenständen, um dann Antworten zu finden. Hingegen verbleibt die Kunst in ihrer Sphäre der Transzendenz und es genügt ihr, die richtigen Fragen zu stellen.

Hier aber lauert auch die Gefahr, dass fremde Mächte mitwirken beim kreativen Schaffen:
Das kunsthistorische Wissen und die Kenntnis wohl aller künstlerischen Werkzeuge bilden den mächtigen Werkzeugkasten, aus welchem heraus der Künstler virtuos komponiert – wie Adrian Leverkühn – Musik direkt in die Seele der Menschen. Doch erinnern wir uns: wer “seinen Faust“ gelesen hat und (den)noch immer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, dessen Seele lebt gefährlich.

Immer wieder mal erscheint mir das virtuose Spiel mit den zahllosen Elementen als gefährlich: “Gehe noch ein Stück weiter!” höre ich Mephisro im Hintergrund flüsternd locken, suggestiv und verführerisch.
Dürremat erzählt in “Die Physiker” von derselben Gefahr und Verführungsgewalt, der Leonardo da Vinci womöglich erlag, als er mit der Mona Lisa etwas ganz neues schuf. Vielleicht ist ja ebendiese Gefahr eine der Verbindungen, die Kunst und Wissenschaft miteiander verbinden. Im Glasperlenspiel hat Hermann Hesse es brillant gezeigt.

Mit Blick von
jenseits des Nebels
mit sicheren Schritten …
… am Rande des Abgrunds
zelebriert die Kunst den
Tanz des Glasperlenspielers.

Jürgen Linde im April 2023