teilnehmen am Himmelsspiel – über Michelin Kober

Michelin Kober im Internet: www.michelinkober.de

Aktuelle Ausstellungen und Projekte von Michelin Kober

Michelin Kober: “horizon – on”, 2013
Tusche auf Büttenpapier, 106 x 144 cm

teilnehmen am Himmelsspiel – über Michelin Kober:
Einzigartige Bildräume, die in großen wie in kleinen Formaten eine fast magnetische Wirkung auf den Betrachter haben. Filigranste Strukturmuster, die eine sehr systematische und kontemplative Arbeitsweise erahnen lassen. Licht und Schatten, tiefstes Dunkel – manche Arbeiten erinnern mich an Stanley Kubricks “Odyssee im Weltraum”. So meine ersten Eindrücke der Arbeiten von Michelin Kober, die in Stuttgart lebt.

Michelin Kober, © Foto: Emma Mijic

Oft, so erscheint es auf den ersten Blick, sind die Arbeiten fokussiert auf eine kleine Fläche im Bild, die weiß bleibt. Licht, Leben und Tod, Assoziationen in Richtung des Transzendenten werden geweckt. Der Versuch, sich die Faszination dieser Werke zu erklären, führt schnell zu der Vermutung, dass die besondere Arbeitsweise der Künstlerin hier eine zentrale Rolle spielt.

Michelin Kober arbeitet in verschiedenen Werkgruppen, die alle weiter fortgesetzt werden. Die Arbeitsweise folgt jeweils einem strengen Konzept. Ein “Ende oder Abschluss der Werkgruppe“ ist nicht absehbar.
Die Künstlerin, die nach einer Tischlerlehre schließlich an der Kunstakademie in Stuttgart Bildhauerei studiert hat, arbeitet in ihrer Einzelarbeit vorwiegend im zweidimensionalen Bereich.

Parallel dazu ist Michelin Kober Teil der Künstlergruppe Filderbahnfreundemöhringen FFM; im Kollektiv mit Daniel Mijic entstehen ortsbezogene, installative Eingriffe. Diese gemeinsame künstlerische Arbeit hat für sie den gleichen Stellenwert wie ihre künstlerische Einzelarbeit.

Auf ihrer gut strukturierten Website bietet die Künstlerin einen Überblick über ihre verschiedenen Werkgruppen, die komplett vorzustellen unseren Künstler-Porträt-Rahmen bei weitem sprengen würde.

Auch finden sich hier kompetente und erhellende Beschreibungen der besonderen Arbeitsweise von Michelin Kober – hier ist nachzulesen, wie die Künstlerin ihre oft suggestiv wirkenden Bilder entwickelt: etwa in ihrer Serie “Horizon” zeichnet sie feine Tuschelinien, die zu homogenen Flächen verschmelzen, wiederholt diesen Vorgang mit bewusst gesetzten, minimalen Abweichungen, bis irgendwann die Sättigung des Malgrundes erreicht wird.

Licht und Bewegung sind die Themen und gleichzeitig auch die Werkzeuge, mit denen die Künstlerin arbeitet: So trägt Michelin Kobers Ausstellung, die für die Städtische Galerie Ostfildern geplant war (und die nun verschoben wurde auf 2022, um zu gewährleisten, dass die Arbeiten, die teilweise direkt an der Galeriewand entstehen werden, auch für reale Besucher zu erleben sein wird), den Titel: Lichtfänger -Michelin Kober visualisiert flüchtige Momente – Bewegung und Zeit im Raum.

Die Künstlerin arbeitet nach klaren, strengen Konzepten, wobei dann aber jeweils dem Material (Fließgeschwindigkeit der Tusche, Gravitation, etc.) oder der Natur (etwa: die Schleichwege von Weinbergschnecken) ein eigenes Recht zukommt. Das jeweilige Endergebnis der künstlerischen Arbeit ist alles andere als beliebig, es ist aber eben auch nicht exakt vorhersehbar. Langsamkeit und Wiederholung, auch Zufall bestimmen den offenen Ausgang mit.

Eine der Werkgruppen von Micheln Kober scheint mir besonders geeignet, um zu veranschaulichen, wie die Künstlerin Licht und Natur in ihre Arbeit einfließen lässt: “Augenblick verweile doch“ aus den Jahren 2012/2013.

Michelin Kober: “Augenblick, verweile doch”, Atelier 12.06.2012,
20 x 30 cm, Bleistift, Buntstift auf Papier

Die Künstlerin erklärt anschaulich, wie solche Werke entstehen: Einmal stellt sie ein ausgedientes Marmeladenglas auf einen leeren Papierbogen auf ihrem Atelierschreibtisch. Dann folgt sie mit dem Bleistift den Lichtreflexen im Bereich des Schlagschattens, die die hereinscheinende Sonne durch das Glas auf das Papier wirft. Hell- und Dunkel-Töne der Schatten macht sie durch entsprechende Grauwerte in ihrer Zeichnung sichtbar. Erst wenn die Sonne „ums Eck“ ist, beendet sie diese Arbeit.

Leise und sensibel wirken die so entstandenen Werke. Wir sehen, dass Michelin Kober die Themen Sonne/Licht und Bewegung auf eine sehr differenzierte, eher indirekte Art zum Gegenstand ihrer Arbeiten macht. Diese Abstrahierung durch indirekte Vermittlung erlebe ich in ihrer Wirkung als lyrisch.

Und dann fällt mir ein Beispiel ein aus der Lyrik, wo der Dichter, Gottfried Benn, eine in gewisser Weise vergleichbare Strategie verfolgt:

Michelin Kober: “horizon-across”, 2013
Tusche auf Büttenpapier, 32 x 42 cm

Ein Schatten an der Mauer
Ein Schatten an der Mauer
von Ästen, bewegt im Mittagswind
das ist genügend Erde
und hinsichtlich des Auges
genügend Teilnahme
am Himmelsspiel.
(erste Strophe des Gedichts von 1950)

Wie bei Michelin Kober erscheinen auch in diesem poetischen Bild Licht und Bewegung sehr vermittelt.

Neben der Lyrik scheint mir auch die Musik hier nicht weit: Wie eine Dirigentin vielleicht agiert die Künstlerin als Moderatorin zwischen Konzept, Material und Natur. Wenn wir, um im musikalischen Bild zu bleiben, dabei das Konzept als Partitur betrachten, so erscheint uns diese Kunst als virtuose Komposition aus Bewegung, Materie, Licht, Zufall und Zeit – Künstlerin und Betrachtende können hier

teilnehmen am Himmelsspiel.

Jürgen Linde, im April 2021