Auf der Vogelstang – Geschichte einer Kindheit

Bildergeschichten von Jürgen Linde und Dietmar Zankel: Das musste ja so kommen: Linde textet autobiographisch: Serie: Kindheitserinnerungen [ I – XII ]
Kapitel I -III: Raufaser | Dieseldampf | Gold, was glänzt
Kapitel IV – VI: nur mit Wasser | auch ganz schön | Käseglocke
Kapitel VII – IX: ma halblang | eigentlich | was Vernünftiges...
Kapitel X – XII: Im Westen nix neues | Dialoge | Vaters besondere Logik | Zusammenfassung

Dietmar Zankel: „Horizont dazwischen“, 2014


I: Raufaser
Mannheim-Vogelstang, ein Trabantenvorort Mannheims-
Dort lebst Du nicht, aber wohnst schon mal. – Besser wie nix, sagt man in Mannheim.
Ein paar wenige Hochhäuser, 12, 14, ein paar sogar 22 Stockwerke hoch. Flächendeckend aber: Lange Wohnblöcke mit 4 Etagen (das Erdgeschoss wird in dieser Region mitgezählt).Pro Wohnblock so 8 – 12 Haustüren; pro Haustür dann jeweils (links und rechts des Treppenhauses 4, also insgesamt) 8 Wohneinheiten. Keine Fahrstühle. Die riesigen Wohnblöcke waren nicht „gerade“ (rechteckige Grundfläche), sondern mehrfach “geknickt/verwinkelt“, so wirkte alles bewegter und man wusste, immerhin, dass man nicht in der DDR war.
Gebaut zunächst als Sozialwohnungen von der „Neuen Heimat“, die dann später irgendwann verkauft wurde für die symbolische eine deutsche Mark.

Das war alles nicht schlecht, damals mit 5, 6 Jahren: Viele Kinder, viele Gleichaltrige, Spielplätze vor jedem Wohnblock; Fußballplätze seltener, aber doch genug für alle.
Lebensraum für Menschen, die garantiert nicht reich waren, aber halt doch anständig wohnen wollten.
Als wir, meine Eltern, meine Schwester und ich, hier einzogen, war alles ganz neu. 4 Zimmer/Küche/Bad, eigene Zimmer für uns Kinder. Mein Zimmer war ein Schlauch von 2,3 x 5,5 Meter; etwas seltsam, aber egal.

Viel später erst wurde mir klar: Wie man richtig wohnt, wussten dort die meisten nicht. Meine Eltern auch nicht, also wurde, was man hat – denn man tat ja, was man konnte – als gut und schön erklärt. Man war ja vernünftig und war zufrieden mit dem, was war. Man hatte ja auch schon ganz andere Zeiten erlebt, ja, weiß Gott, an den hier kein Mensch glaubte.
Die Skyline der Vogelstang wurde dominiert von den anfangs noch nicht allzu vielen Hochhäusern – insofern also ähnlich wie in Manhatten / NewYork. Manchmal, wenn ich Ideen hatte, die in weite Welt tendierten, sagten meine Eltern:
„Jetzt mach mal halblang“ oder „Bloß nix übertreibe.“

Ach ja, unsere Wohnung war im dritten Stock, was mein Vater dann irgendwann, als er, schwer krebskrank, kaum noch gehen konnte, wahrscheinlich bereute.
Die Wände waren tapeziert mit Raufasertapeten, die neu schon ein wenig gelblich aussahen. Die wurden dann weiß gestrichen und es dauerte kaum zwei Jahre, bis sie schon wieder sehr gelblich aussahen.

und das Licht versickerte in der Wand.

Dietmar Zankel im kunstportal-bw
Dietmar Zankel: „Gedankenakrobatik“, 07.07.2015
Motiv 1498 aus „Block Ritter“
Zeichnung/Mischtechnik auf Papier, 13,5 x 9,5 cm

II: Dieseldampf
So war halt die Zeit, damals.
Man hatte schon Fernsehen, schwarz-weiß, aber immerhin, man sah das Weltgeschehen aber man sah nicht in die Welt.
Eher ein Spiegel, der einem zeigte, dass man ja irgendwie da war in dieser Welt, die sich durch das Fernsehen ja nicht änderte.

Im richtigen Leben, ja. Mein Vater: Jeden morgen früh los, nachmittags schon vor halb fünf zuhause – mit Bus und Bahn, das geht schon und kostet nicht die Welt. Der Tag beginnt und endet mit Zigaretten, die man gleich stangenweise einkauft. Man will ja das Leben schließlich auch genießen.
Morgens zuerst ein Lungenbrötchen, abends dann eine Feierabendzigarette, das wird ja wohl noch gehen.

Am Sonntag mal in die Stadt, die Stadt Mannheim ist viel besser als ihr Ruf, immer schon, eigentlich. Und jetzt, seit der Bundesgartenschau, gibt es diesen wunderschönen Luisenpark mit dem Fernsehturm drin. Eine Oase des Grünen – mitten in der Stadt, das gibt’s nicht überall. Oben im Turm, unter der Aussichtsplattform, gibt es ein Restaurant, das sich langsam dreht, das ist ganz toll.
Der Park, sagt Vater kettenrauchend, ist die grüne Lunge der Stadt, wunderbar, dass es sowas jetzt gibt. Dort oben im Turmrestaurant aber zu essen ist für uns leider doch zu teuer, das können wir auch nachher drüben, beim Ruderverein am Neckarufer gegenüber. Da ist alles auch ganz nett, angenehm normal halt, ja, und da ist es ja auch schön.
Genug der grünen Lunge. Dann wieder heimwärts mit Bus und Bahn. Leider fährt der Bus gerade schon los, als wir die Haltestelle erreichen.

Bleibt uns der Dieseldampf.

Dietmar Zankel im kunstportal-bw
Dietmar Zankel: „wer tanzt auf meiner Nase“, 03.05.2015
Motiv 1267 aus „Block Ritter“
Zeichnung/Mischtechnik auf Papier, 13,5 x 9,5 cm

III: Gold was glänzt
Nochmal die Vogelstang,
von Anfang an ein besonderer Stadtteil.
In der Mitte des komplett neu geschaffenen Stadtteils gab es, man ahnt es, auch ein „Einkaufszentrum“.

Gewissermaßen ein Vorläufer der heute in Stadtzentren üblichen, gerne auch eher glamourösen, Malls, die dort Profit machen und, völlig zu Recht, den alten Kaufhäusern endgültig das Wasser abgraben…
Das Einkaufszentrum auf der Vogelstang war aber anders: glamourfrei, grau in grau, ein riesig erscheinender Betonklotz, von außen komplett ohne Flair und Verstand. Man lief, modern, modern, auf einer schrägen Fläche erstmal ins Obergeschoss, wo es (unter anderem, alles weiß ich nicht mehr) eine Bäckerei (Zorn) gab, einen Friseur, ein Café (Grimminger) und einen Klamottenladen und einen Zeitschriftenladen auch – und sogar noch, oder, ich glaube, das war dann erst später?, ein griechisches Restaurant. Alles einfach aneinandergereiht.

Per Treppe gelangte man ins Erdgeschoss: zentral war hier die Straßenbahnhaltestelle: Von der End-Haltestelle Vogelstang kommend, fuhren hier die Bahnen in die Stadt Mannheim; die Linie 2, in der ich dann in meiner Jugend unendlich viel Zeit verbracht habe, immer auf dem Weg in die richtige Stadt.
Ach ja, außerhalb des Betonklotzes gab es auf der Höhe des Obergeschosses noch zwei längliche Gebäudeteile, schwarz eingefärbt, eines links und eines rechts der Straßenbahngleise unten:
Ein Bürohaus, in dem sich die Gemeindeverwaltung und wohl einige Amts-Außenstellen der Stadt Mannheim bürgernah befanden. Das andere war das Ärztehaus, in welchem sich aber nur wenige Ärzte eingemietet hatten. Das Umfeld war ja auch irgendwie nicht wirklich sexy.
Die Ärzte waren auch auf der Vogelstang, immerhin einem stark wachsenden Stadtteil, aber sie waren woanders: Von der Brandenburger Strasse aus, wo wir wohnten, durch das zentral gelegene Einkaufszentrum durchgelaufen gelangte man, ganz am anderen Ende des Stadtteils, zu dem ebenfalls ganz neu ausgebuddelten Baggersee. Als Kinder hatten wir auf dieser Baustelle wirklich viel Spaß. Hier am See entlang war ein Neubaugebiet und dann auch bald die Ärzte, die hier ihre Häuser bauten und ihre Praxen hatten.

Wenn man, wie wir, kein Auto hatte, waren es von der Brandenburger Strasse bis zum Baggersee mindestens 30 Minuten Fußweg. Man konnte aber auch, wie es heute inzwischen ja modern ist, mit dem Fahrrad fahren. Wirklich vieles war neu für uns auf der Vogelstang, ein Luxusleben hatten wir nicht erwartet und nicht bekommen. Meine Mutter fasste dies gerne lebensklug zusammen:
Woanders ist auch nicht alles
Gold, was glänzt.