Paul Blau zum Jahreswechsel 2022 / 2023

Paul Blau zum Jahresende 2022

Hallo Ihr Lieben, 

es ist immer irgendwann im Herbst, dass ich da sitze und darüber nachdenke, was ich schreiben könnte, müsste oder wollte. Und auch, ob das wichtig ist. Zweifel nagen, warum gerade ich etwas zu sagen haben sollte. Nun, es ist doch ein jeder, ein jedes Leben, das etwas zu sagen hat, nur dass manche Leben nicht danach trachten oder mit existenzielleren Dingen beschäftigt sind oder in Dumpfheit versunken sind. Nicht jeder hat die Wahl. So denke ich manchmal, selbst das Sprechen und das Sprechen-Dürfen ist ein Privileg. Ich merke gerade, dass ich beginne, mich ins Unterirdische zu bewegen, denn bisher habe ich in naiver Weise meine aufgeklärte und demokratische, freundlich-gesinnte und offenherzige Sichtweise als Basis allen Seins angesehen. Aber immer mehr frage ich mich, ob ich da nicht bereits, indem ich hier mein „normales Leben“ leben darf, von einem Art Elfenbeinturm der Auserwählten aus auf die Welt herunter schaue.

Andererseits ist es aber auch wichtig, das Niveau zu behalten, welches das Ergebnis meines bisherigen Daseins ist, aus dem heraus ich geworden bin und mein Bewusstsein von Freiheit beispielsweise entwickelt habe.

Nur weil woanders und gefühlt mittlerweile sich zunehmend ausbreitend in vielen Gesellschaften diese Freiheit nicht mehr existiert oder noch nie existiert hat, ja Menschen nicht einmal wissen, dass freies Denken, freies Sprechen eine Möglichkeit ist, darf ich doch nicht aufhören, frei zu leben und mich zu äußern. Denn auch die Möglichkeit der Anprangerung von Missständen ist eine Freiheit. Woanders müssen Menschen damit rechnen, wenn sie das falsche Wort benutzen, ins Gefängnis zu kommen…

Nur die Gedanken sind frei. Was aber, wenn ein Volk manche Gedanken gar nicht kennt?

Und schon bin ich mittendrin. Denn eigentlich wollte ich langsam einsteigen, doch nun steht da schon eine halbe Seite.

Und ich bin dort unten im Dunklen angekommen und frage mich, muss ich dazu tatsächlich auch etwas schreiben? Will jemand etwas von der Dunkelheit hören, wo doch jeden Tag die Zeitung und das Internet voll davon stehen? Tropft die Nacht auf uns herunter? Wie viel Dunkelheit verkraftet dieser Brief?

Es fällt mir schwerer denn je, zu schreiben, befängt mich doch eine gewisse Sprachlosigkeit, fehlen mir doch in gewisser Weise die Worte, weil mir für Vieles, was sich da ereignet, das Verstehen fehlt.  

Zum Beispiel für den Krieg. Ein Wort, das in dem kriegführenden Land nicht ausgesprochen werden darf und „Spezialoperation“ heißt. Der Krieg war schon immer da, nur schien er uns allen immer weit weg zu sein. Er war immer irgendwo in der Welt. Nun findet er quasi vor unserer Haustür statt, angefangen von einem Verblendeten, von einer fanatischen Machtstruktur, die bereit ist, selbst das eigene Volk zu verheizen. Warum spielt jemand mit der Welt?

Ich habe bemerkt, dass ich nicht dazu in der Lage bin, selbst wenn ich mein gesamtes Einfühlungsvermögen zusammennehme, mich hinein zu versetzen in jemand, der einen Krieg anfängt. Warum ist oder wird ein Mensch so menschenfeindlich? Es ist mir nicht gelungen, weshalb ich mich in diesen Tagen mit der Psychologie des Bösen beschäftigt habe. Ich konnte die Erkenntnis gewinnen, dass ein zentraler Punkt der Mangel an Empathie ist und dass ein solcher das Böse erst ermöglicht, es findet eine Entmenschlichung statt, der Feind ist quasi kein Mensch mehr. Woher dieser Mangel kommt, ist sicherlich unterschiedlich, so etwas kann auch mit Systemen, mit persönlichem Erleben und mit Lernen zu tun haben. Ein ähnliches Phänomen gibt es bei der Macht. Der Unterdrückte ist nur noch ein Wesen, welches mir im Weg steht und meine Entfaltung und Ausbreitung verhindert. Der Böse stellt den Feind als den Bösen dar und belegt ihn mit negativen Eigenschaften. Und da sind wir bei einem weiteren Aspekt: dem von Wahrheit und Lüge. Die Wahrheit ist nur das, was ich als solche ansehen will. Es gibt nicht nur die „Fake News“, es gibt die Behauptung und hinterher die genau gegenteilige Handlung, es gibt den Vertrag, – aber was schert mich meine Unterschrift von gestern? Verbindlichkeit? Was ist das?

Hinzu kommen Haltungsproblematiken. Das Fehlen von Anstand und Respekt, die Missachtung der Würde des Andern, all das wird immer hoffähiger, wird zunehmend mehr akzeptiert. Das Poltern, das Umher-Rüpeln, der starke Mann, der es retten soll. Kennen wir das nicht von irgendwoher? Nun, bei uns ist die Generation, die das kennt, weitestgehend nicht mehr am Leben… Die Dummheit oder die Verdummung, das Fehlen von Information oder aber das bewusste Beeinflussen von Information. Was soll der Andere erfahren, was nicht? Was wird da mit ganzen Nationen gemacht?

Mir bleiben die Worte weiterhin stecken, – und zugleich finden sich weitere Themen, die mich ebenfalls beschäftigen und die ebenso zu dem Gefühl von Absurdität beitragen. Zum Beispiel unsere eigenen Tendenzen zur Plattmachung der Sprache, das Betreiben ihrer Verarmung, das Gegendere bis zur Sprach-Unkenntlichkeit, nur um in zwanghafter Weise die political correctness zu pflegen, welche Armseligkeit, wo doch woanders (siehe oben) gelogen wird wie gedruckt… Eine ähnlich fragwürdige Diskussion ist derzeit unter dem Stichwort der „kulturellen Aneignung“ hochgekocht. Darin unterstellt man grundsätzlich eine feindliche Haltung gegenüber anderen Kulturen, eine spätkolonialistische Haltung, die aber meistens doch gar nicht vorhanden ist.

Wollen wir nicht lieber im Miteinander denken, in gegenseitiger Beeinflussung und Entgrenzung statt in nationalistisch-abgrenzender Denk-Art, (diese Kultur gehört uns!)? Wollen wir nicht lieber nach vorne leben statt eine Angriffsfläche zu eröffnen für irgendjemand, dem wir es nicht recht machen können? Wir können es niemals jedem recht machen. Was zählt, ist immer die Absicht. Danach wird viel zu selten gefragt. In freundlicher Absicht muss es auch erlaubt sein, Fehler zu machen. Ich plädiere für eine Fehlerkultur. Ein Mensch ohne Fehler ist kein vollkommener Mensch, sagt Alfred Polgar. Wir vermischen uns, wir sind Menschen, wie schön das ist, wir sind unterschiedlich, wir betrachten uns wohlwollend, wir interessieren uns, wir geben und nehmen. Bin ich Idealist?

Obwohl man tatsächlich manchmal schweigen oder weinen wollte, wenn man den Zustand der Welt und die Gräueltaten der lauten und der leisen Misshandler sieht, schweige ich nicht, – denn auch wir sind, auch die Menschen mit Freundlichkeit sind, und auch die Liebe ist.

Ich versuche gerade, nach diesen vielen, doch eher mutlosen Zeilen die Kurve zu kriegen, und doch noch zu einem „erbaulichen Abschluss“ dieses Briefes zu kommen. Das ist trotz allem nicht so schwer, da wir nicht im Negativen leben wollen und können. Albert Einstein hat einmal gesagt: Wir können nicht an den Menschen verzweifeln – denn wir selbst sind Menschen. Hoffen alleine genügt nicht. Wir selbst können dort in unseren kleinen Welten mit unseren kleinen Möglichkeiten zu Trägern der Hoffnung, der Freiheit und der Menschlichkeit werden, jeder an seinem Platz, jeder mit seinen Mitteln, indem wir versuchen, nicht abgrenzend zu agieren, sondern verbindend, indem wir Hände reichen statt Hände zurück zu ziehen, indem wir fragen statt urteilen, all das.

Und diese Kraft und den Glauben an den kleinen eigenen Einfluss, das wünsche ich uns allen.

Alles Liebe für Euch!