Ein Gespräch mit Peter Weibel, dem künstlerisch-wissenschaftlichen Vorstand des ZKM, zur
Ausstellung »Renaissance 3.0«
Neue Wissensfelder
Ein Gespräch mit Peter Weibel, dem künstlerisch-wissenschaftlichen Vorstand des ZKM, zur
Ausstellung »Renaissance 3.0«
[ das zkmintern geführte Interview erscheint hier im kunstportal-bw mit freundlicher Genehmigung von Peter Weibel ]
Herr Weibel, Sie haben der Allianz von Kunst, Technologie und Wissenschaft in Ihrer Zeit
am ZKM immer wieder große Ausstellungen gewidmet. Was fasziniert Sie an diesem
Thema?
PW_ Es gibt für mich zwei Arten von Wundern. Zunächst sind da die Wunder der Natur in
unzähliger Anzahl, die zugleich auch unfassbare Wunder sind – vom Gehirn des Menschen
bis zum Planeten Erde selbst. Erstaunlich sind die komplex-funktionierenden
Lebensbildungsprozesse – die Tatsache, dass in den Körpern von Lebewesen neues Leben
heranwächst. Dass lebendige Körper neue Körper gebären oder ausbrüten, ist ein Wunder.
Genau genommen sind diese Wunder der Evolution entwicklungsgeschichtliche Prozesse,
die Milliarden von Jahren benötigten.
Auf der anderen Seite gibt es ebenso die Wunder der Technik. Die Tatsache, dass wir in
Geräte und mit Geräten sprechen und unsere Stimmen in anderen Erdteilen gehört werden;
dass wir in Bruchteilen von Sekunden Bilder mittels großer und kleinster Maschinen z.B. mit
Smartphones erzeugen, die weltweit gesehen werden können, ist ein Wunder. Das
elektrische Licht, die operativen Techniken der Medizin, die gentechnischen Interventionen,
die künstliche Intelligenz usw. sind Wunder, die der Mensch erzeugt hat und zwar grosso
modo erst innerhalb der letzten 500 Jahre.
Der Unterschied zwischen dem sogenannten natürlichen Fortschritt der Evolution und dem
von Menschen gemachten Fortschritt ist im menschlichen Willen zu sehen, die natürliche
Evolution durch eigene Kreativität zu beschleunigen. Technologie – d.h. technische Wunder,
also von Menschen gemachte Natur – ist vielleicht als eine Evolution zweiter Ordnung zu
bezeichnen. Das Auge ist bekanntlich die Antwort der natürlichen Evolution auf die Sonne
und die Lunge die Antwort auf die Sauerstoffatmosphäre. Für defekte Augen oder kranke
Lungen sind Brillen, Augen-OPs und Herz-Lungen-Maschinen die Antwort des Menschen auf
die natürliche Evolution.
Da der Mensch jedoch selbst ein Produkt der Evolution ist, sind seine technischen
Korrekturen und Extensionen der Evolution ebenso Teil der Evolution. Diese vom Menschen
weiterentwickelte Evolution nenne ich »Exo-Evolution«. In Zukunft wird der Mensch immer
mehr von Produkten, Apparaten und Prozessen umgeben sein, die er selbst generiert. Er lebt
mehr und mehr in einer menschlichen statt natürlichen Umwelt. Dabei entstehen Mengen
von Daten und Informationen, deren Folgen abzuschätzen der Mensch im Augenblick noch
nicht im Stande ist, weshalb es zu einer Vielzahl aktueller Krisen auf dem Planeten Erde
kommt – von der Energie- bis zur Finanzkrise.
Die Allianz von Technologie und Wissenschaft als Antwort des Menschen auf die natürliche
Evolution ist also für mich ein zentrales Thema, da das Überleben des Menschen davon
abhängig ist. Die Kunst in ihrer höchsten Form ist keine Abbildungstechnik, sondern ein Akt
der Erkenntnis, ein Akt der Künstler:innen wie ein Akt der Betrachtenden. Die Medienkunst
ist deshalb so wichtig, weil sie weit über die mimetische Funktion der klassischen Künste
hinausreicht.
Im Kern ist Medienkunst eine Extension der natürlichen Sinnesorgane, also ein Fortschreiben
der Evolution durch die Exo-Evolution des Menschen. Apparate und Medienkunstwerke sind
keine Repräsentationsmedien des Gegebenen, sondern bieten ähnlich wie natürliche
Sinnesorgane Schnittstellen zur Welt, die uns diese anders wahrnehmen lassen und so
Veränderung ermöglichen. Auf diesem Funktionsbereich gründet die produktive Allianz von
Kunst, genauer gesagt von Medienkunst, Technologie und Wissenschaft.
Die Ausstellung trägt den Titel »Renaissance 3.0«. Hat sich das Verhältnis zwischen Kunst
und Wissenschaft im Zeitalter der Digitalisierung verändert und wenn ja, wie?
PW_ Ja, mit der Digitalisierung wurde das Reich der Gestaltung um das Reich der Codierung
erweitert. Das System der Codierung, das über Computernetz-werke läuft, steuert heute den
Großteil organisatorischer und gestalterischer Prozesse. Viele Menschen leben zwar immer
noch in der Welt der »Legobausteine«, mit denen Blöcke, z.B. Häuser und Container gebaut
werden. In der digitalen Welt bestehen diese Container und Blöcke jedoch aus immateriellen
Ziffern. Die Bausteine der physischen Welt sind hier digital codiert, werden nicht mithilfe von
Muskelkraft transportiert, sondern mittels Computer-Bildschirmanweisung innerhalb eines
logistischen Systems gesteuert.
So ordnet ein Algorithmus einem zu befördernden Frachtgut Ziffern auf effektive Weise zu,
steuert die Verteilung der Container auf Gleise und Kräne. Codes gestalten den realen
Prozess. Codes sind keinesfalls nur Handlungsanweisung, sondern auch Ausführung. Die
Ausführung selbst, also der Übergang von der Zeichengestalt zur Wirklichkeit, ist ein Prozess
der Kodierung an der Schnittstelle von Hard- und Software.
Renaissance 1.0 und 2.0, die arabische und die italienische Renaissance, haben von Anfang
an eine Verwissenschaftlichung von Kunst vorangetrieben, nicht nur auf Ebene der
Gestaltung, sondern auch auf der Ebene der Berechnung. Bekanntlich geht das Wort
„Algorithmus“ auf den persisch-arabischen Mathematiker Muhammad ibn Musa alChwārizmī (787–850) zurück, ebenso sind das Werk »Kitāb al-manazir« (»Schatz der Optik«)
von Alhazen und auch Leon Battista Albertis Definition der Perspektive als gesetzmäßige
Konstruktion („construzione legittima“) sowie die Proportionenlehre bereits numerisch
begründet. Die Hilfsgeräte für Perspektivzeichnungen, wie sie z.B. Albrecht Dürer nutzte,
waren im Grunde bereits analytische Geometrie, stellten also eine Verwandlung von Raum
in Ziffern bzw. Punkte, d.h. rechnerische Operationen, dar.
Durch die Herrschaft der Digitalisierung, welche die Herrschaft der Mechanisierung (Sigfried
Giedion, »Mechanization Takes Command«, 1948) ablöste, stehen Kunst und Wissenschaft
auf einer vollkommen neuen Basis: dem binären Code. G.W. Leibniz zeigte bereits Ende des 17. Jahrhunderts, dass wir, um sämtliche Zahlen abzubilden, anstelle des Dezimalsystems, d.h. 10 Ziffern, auch mit einem binären System auf Basis der Kombination der beiden Ziffern 0 und 1 arbeiten können. Die heutigen Computertechnologien, die Texte, Bilder und Töne erzeugen, operieren allesamt mit diesem binären Code.
Der aktive Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft ist ja bereits ein Anspruch von
vorhergehenden Renaissancen wie der arabischen oder italienische, gewesen. Die Ausstellung fokussiert sich nun auf die Verbindung von Kunst und Wissenschaft im 21. Jahrhundert, die eine gegenwärtige dritte Renaissance auszeichnet.
Wo liegt die Verbindung zwischen diesen Zeitenwenden?
PW_ Die Verbindung der drei Renaissance-Phänomene liegt in der Philosophie jenseits von
Metaphysik, Materialismus und Ontologie. Bereits das opulente Werk über mechanische
Apparate, das »Kompendium zur Theorie und Praxis der mechanischen Künste / The Book of
Knowledge of Ingenious Mechanical Devices« des muslimischen Ingenieurs Ibn al-Razzāz alJazarī (1136–1206) demonstriert, dass man Ideen formalisieren kann. Das bedeutet nicht,
dass alle Ideen formalisierbar sind, doch gibt es Ideen, die man in geordneten Zeichenfolgen,
seien es Buchstaben oder Zahlen, anordnen kann.
Man kann den Austausch von Handelsware in eine Folge von Ziffern verwandeln, ebenso den
Austausch von Gedanken in eine Folge von Buchstaben. Sofern wir akzeptieren, dass es
Formalsysteme gibt, zu denen auch Shakespeare die Frage gestellt hat: »What’s in the brain
that ink may character?« (Sonnet 108) – dann liegt die Vermutung nah, dass sich diese
Formalsysteme in mechanische Systeme übertragen lassen. Man kann also Musikmaschinen
bauen wie die drei Banū-Mūsā-Brüder um ca. 800 oder eine Rechenmaschine. Man kann
mentale Vorgänge formalisieren und mechanisieren.
Mit diesen neuen Werkzeugen lassen sich wiederum neue Gedanken, also mentale Prozesse,
hervorbringen, die dann anschließend wiederum formalisiert und mechanisiert werden, also
neue Werkzeuge erzeugen. Die Frage, die Nobelpreisträger Eugene Paul Wigner stellte,
warum die Mathematik in der Physik so erfolgreich sei, ist durch diesen von mir
beschriebenen Vorgang beantwortet. Es gibt nicht nur mehr zwischen Himmel und Erde, wie
Shakespeare uns in Hamlet (»There are more things in Heaven and Earth«, 1604)
versicherte, sondern es gibt ebenfalls noch mehr zwischen Mentalismus und Mechanismus
zu entdecken.
Was erhoffen Sie sich von der zukünftigen Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft?
PW_ Wir denken an schöne »Devices«, die zur Verbesserung der Menschheit führen! Über
Jahrtausende war es das Ziel der Zivilisation und die Tendenz der Technologie, die Menschen
vor der Natur zu schützen. Aber nun angesichts der energetischen Kosten der Zivilisation für
acht Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde müssen wir die Natur vor den Menschen
schützen. Andernfalls berauben wir uns der Grundlagen unseres Lebens.
Deswegen wird im 21. Jahrhundert der Fokus stärker auf den Lebenswissenschaften liegen.
Mit der Ausstellung folgen wir diesem Paradigma, nehmen Einblick in künstlerische
Laborsituationen und künstlerisch-wissenschaftliche Kollaborationen, in denen unter
Modellierung von Fragen, Hypothesen und künstlerisch-experimentellen Entwürfen zu
Medizin, neuen Materialien und erneuerbaren Energien, Artenvielfalt und
Informationsfreiheit praktiziert wird – von der Biochemie über Genetic Engineering und
Informationsdesign zu den Neurowissenschaften und Unconventional Computing.
Wo verorten Sie sich selbst als Künstler im Feld von Kunst und Wissenschaft?
PW_ Ich selbst habe als Künstler mein Leben lang Anstrengungen unternommen, um auf den
Feldern der Wissenschaft und Kunst kompetent zu operieren, wobei mir bewusst wurde, wie
sehr Mentalismus und Materialismus, altmodisch gesprochen Geist und Körper, einander
wechselseitig bedingen. Ich bin konsequent weder der Körperfrage noch den formalen
Fragen ausgewichen. Alle Formen der Formalisierung, mit denen die Gesellschaft versucht,
Individuen zu beherrschen, einzuhegen oder in ihrer Entwicklung zu hindern, sind mir
angesichts der Möglichkeit der freien Formen als Hemmungen des Humanen aufgestoßen.
Aus diesem Grund entwickelte ich Extreme der Aktion gegen Körper und Staat, genauer
gegen die von Körper und Staat normierte und beschränkte Wirklichkeit. Ebenso entwickelte
ich Extreme der Abstraktion mittels Automatentheorie, Mathematik, Logik etc., um das
Reich der Notwendigkeit in ein Reich der Möglichkeit zu verwandeln. Ich habe
gewissermaßen – mit Willard Van Orman Quine gesprochen – die Ontologie relativiert und in
meiner Kunst die Wirklichkeit als Beobachterrelativität minimiert. »To be or not to be« – das
ist die falsche Frage meines hochgeschätzten Kollegen Shakespeare; die richtige Antwort
lautet mit Quine: To be is to be the value of a (bound) variable.
© ZKM | Karlsruhe, 2023