Paul Blau | Weihnachts-Rundbrief 2024

Wieder ist es diese Zeit, Winter, ein ruhiger Morgen im warmen Zimmer, und immer ist es ein Jahr später, und doch ist es nie wie immer, nur scheint es manchmal so. Wir alle sind wieder ein Jahr älter geworden, reifer, weiser oder nichts von dem, bemerken vielleicht, wir haben dies und das gewollt, uns etwas vorgenommen und es doch nicht ganz geschafft, oder wir können stolz auf uns sein, weil wir irgendwo weiter gekommen sind. Aber im Grunde ist es völlig gleich, – wenn wir nicht stehen bleiben, sondern in Bewegung sind, bewegt sind… Und außerdem impliziert es, dass wir im Vollbesitz unserer Kräfte sind, was ja nicht immer der Fall ist, – sind wir doch beeinflusst von dem, was wir direkt erleben, was Andere mit uns tun, beeinflusst von unseren eigenen Haltungen und Einstellungen, unserem Temperament, und auch von den Ereignissen in der Welt, die uns nicht unversehrt lassen oder die wir genau deshalb, weil sie das tun, auch gelegentlich ausblenden müssen, um im Sinne von Selbstschutz für uns selber da sein zu können. Manchmal sind wir in solch einem Zustand.

Was sagt uns das alles? Es zeigt die Relativität unseres Seins. Heute fliegen wir, sind glücklich, morgen zerschellen wir, und nichts ist mehr wie vorher. Heute gewinnen wir einen Menschen und morgen verlieren wir ihn. Meine Weisheit ist inzwischen so klein, dass ich fast nicht mehr von Weisheit sprechen möchte. Ich weiß, dass ich nichts weiß. Wie wahr dieser Satz von Sokrates doch ist…

So schlimm es ist, durch die Dunkelheit gehen zu müssen, – und das müssen wir alle, so groß sind darin die Erkenntnisse, das Fühlen, – wie weich werden wir, wie bescheiden und dankbar. Und es kommt zu einer Bewusstseinserweiterung. Wir werden vollständig, wir drängen nicht mehr unsere Schwierigkeiten, Ängste, Verzweiflungen beiseite, sondern wir nehmen sie mit zu uns hinein. Das ist der Weg zum Licht – die Vervollständigung. (ein Gedanke von C.G.Jung). Diese kann aber überhaupt erst stattfinden, wenn wir uns in die Dunkelheit begeben haben. Leider geschieht das oft durch die Ereignisse des Lebens, ob wir es wollen oder nicht. Aber auch dann haben wir die Wahl: uns zu stellen oder uns dagegen zu stellen.

Someone I loved once gave me a box full of darkness.
It took me years to understand that this too, was a gift.

Mary Oliver

Wir erkennen, dass wir klein und nackt sind und nur noch das Wesentliche benötigen und auch darauf reduziert sind: Liebe, Anerkennung und Kontakt. Wenn wir hilflos durch die Dunkelheit gehen, entdecken wir, dass wir Freunde haben und dass wir Freunde brauchen. Dann spüren wir, dass wir nicht allein sind und dass wir nicht allein sein können.

Wir freuen uns z.B. an der Abwesenheit von Krieg, von Krankheit. Die ganz normale Alltäglichkeit wird plötzlich zu einem Geschenk. Oft ist dann das Alltägliche wie eine Meditation, eine Rettung über das Schwere und das Bedrückende hinweg. Das Alltägliche ist Ablenkung. Wenn es mir nicht gut geht, bin ich froh darüber, dass etwas funktioniert und dass ich darin funktionieren kann.

Zu dieser Bewusstheit gehört für mich auch noch eine andere Erkenntnis: Wie oft verurteilen wir, sind verärgert über andere Menschen, beginnen einen Kampf, grenzen uns ab und suchen keine Annäherung mehr. Weil wir verletzt sind. Wir schlagen um uns.

Mitunter gibt es auch wirklich Menschen in unserem näheren oder ferneren Umfeld, die uns nicht gut tun oder die eine negative Energie verbreiten, die uns möglicherweise nicht mögen und gar ablehnen. Hier ist es dann tatsächlich nötig, Energie abzuziehen oder Abstand zu suchen, zumindest eine sachliche Ebene herbeizuführen. Selbst wenn wir versuchen, durch die Augen dieser anderen Personen zu schauen, reicht das oft nicht aus, um uns ihnen anzunähern.

Aber neulich habe ich ein Zitat gelesen von dem wunderbaren Schauspieler und Menschen Robin Williams, bei dem ich dachte, vielleicht ist das ja eine Basis, irgendeine ganz kleine, ein Verstehen oder eine Art von Verständnis entstehen zu lassen:
„Jeder, den du triffst, kämpft einen Kampf, von dem du nichts weißt. Sei freundlich. Immer.“

Und nun schlage ich einen Bogen – weg vom ganz persönlichen Umfeld, das doch glücklicherweise bei uns (fast) frei von Krieg, Beschneidung der Meinungsfreiheit, Rassismus, übler Nachrede, Rufmord ist, ach, ich könnte die Reihe bis zum Seitenende fortsetzen. Doch lebe ich eben nicht in einer beschützten isolierten Welt, sondern auch in der Welt da draußen, die sich zunehmend verändert, die nicht nur abkühlt, in der nicht nur Menschenverachtung, Falschaussage, Macht, Ignoranz und Bedrohung hoffähig und politikfähig geworden sind und es immer mehr werden, sondern in der mir das Bild der Lemminge, die da ins Meer laufen, um zu ertrinken, wieder einmal vor den inneren Augen erscheint. Auch wenn mittlerweile dieser Sachverhalt als unrichtig bewiesen ist, passt das „Bild“ trotzdem, – umso schlimmer. Was aber ist größer als das Wissen und das tägliche Erleben vor unserer Haustür, dass z.B. die Klimaveränderung nicht erfunden sein kann. Sind das die Machtgelüste Einzelner? Ist das Dummheit? Ist das Fatalismus oder sind die Massen schon so manipuliert, sind sie schon so ohn-mächtig?

Ein Stück weit fühle auch ich mich mittlerweile selbst sehr ohnmächtig. Meine Tendenz ist der Versuch einer Distanzierung zu manchen Geschehnissen, was aber nur bedingt geht, da sie mich und uns alle stark berühren, da wir ja nicht als Einsiedler auf einer einsamen Insel leben. Und da stehen wir, sind mittendrin, die wir aber dennoch durch unser Leben und unser Tun nicht wirklich zu solchen Entwicklungen beigetragen haben. Die wir versuchen, gut und sozial und menschenliebend zu leben. Dieser Tage ist mir ein aktuelles Zitat der Sängerin Patti Smith untergekommen, das mir nur eine winzige Idee, aber immerhin etwas wie einen Strohhalm geschenkt hat:

„Besinne dich, geh in die Stille, umgib dich mit den Menschen, die wissen, was Lieben und Handeln bedeutet. Kümmere dich um Heilung. Gestalte die Welt unbeirrt weiter nach deinen guten Werten und lebe inmitten deiner Welt“.
Das alles möchte ich Dir in diesem Jahr schenken. Manchmal ist es tatsächlich Resignation, die mich umfängt, Zweifel, die an mir nagen.
Aber das Schöne ist: Du bist nicht allein, nicht mit deinen Schwierigkeiten und den Zweifeln und der Resignation. Ich habe aufgehört, positiv zu denken, und ich habe aufgehört, negativ zu denken. Auch mit Qualitäten wie „gut“ und „böse“ tu ich mir schwer, zumindest in meinem direkten Umfeld. Vieles hat viele Seiten, mehrere Perspektiven. Ich versuche weiter zu machen in meinem Sinne. Wenn auch du in deinem Sinne weitermachst, dann sind wir miteinander schon nicht verloren.

Und: neulich schrieb einmal jemand etwas von der heilenden Kraft der Schönheit. Jawohl!

So werde ich versuchen, mich im oben beschriebenen Sinne weiter zu vervollkommnen – und die Schönheit wie eine Pflanze in meinem Garten weiter zu pflegen.

Hab es gut!

Mit einem ganz lieben Gruß
von Paul Blau