Störungen – über Mimi Kohler

Website von Mimi Kohler

Ausstellungen und Projekte von Mimi Kohler

Doppel-Porträt- über Mimi Kohler | kunstportal baden-württemberg-Porträts: | im Juni 2025

Mit einem Gastbeitrag von Patrick Alan Banfield über Mimi Kohler

Wieder einmal erscheint unser kunstportal baden-württemberg-Künstlerinnen-Porträt als „Doppelporträt“:

Patrick Alan Banfield, selbst Künstler und Kurator einer Ausstellung von Mimi Kohler in 2023 in Waiblingen („Und eine stell ich auf den Balkon“, Kulturhaus Schwanen, Waiblingen) hat uns dankenswerterweise erlaubt, seinen sehr erhellenden Einführungstext zur Ausstellung als Porträttext zu verwenden.

Bild links: Ausstellungsansicht aus „Mimis Kratzstudio DELUXE“; © Mimi Kohler

Nachdem ich selbst auf Mimi Kohlers Arbeit erst im Januar 2025 aufmerksam wurde – dank „Mimis Kratzstudio DELUXE“/ Mimi Kohler Solo-Show, youngblood.artspace, Forum Kunst Rottweil, hatte ich mich entschlossen, mich eingehender auseinanderzusetzen mit der Arbeit dieser jungen Künstlerin, die mit ihren Interventionen unsere Sehgewohnheiten radikal in Frage stellt.

Erst einfach nur Freude: Bilder, Eindrücke, Kunstwerke, die befremdlich erscheinen, neugierig machen und sich auch beim genaueren Hinschauen richtig gut anfühlen, weil sie als Störungen unserer gewohnten Wahrnehmungswelt irritierend frisch wirken. Wirklich neue Kunst; auf auch den zweiten Blick klasse.

Immer schon haben Künstler mit ihren Werken unsere Wahrnehmung irritiert, haben das, was wir sehen und was uns vertraut erscheint, in Frage gestellt. Eingriffe und Interventionen etwa in das jeweilige Stadtbild am Ort der Ausstellung sind gängige Praxis des Kunstschaffens.
Aktuell zeigt dies zum Beispiel die noch bis 06.07.2025 laufende Ausstellung „Katharina Trudzinski: Slalom„. in der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen.

Mimi Kohler jedoch verfolgt offenbar einen radikaleren Ansatz, der unsere gesamte Wahrnehmungswirklichkeit in den Blick nimmt. Im Kontext unserer sich derzeit ja auch politisch stark verändernden Welt erlebe ich die Kunst von Mimi Kohler als besonders zeitgerecht. Tatsächlich setzt sich die Konzeptkünstlerin Mimi Kohler intensiv auch mit gesellschaftlichen / politischen Phänomenen auseinander.

Bild rechts: Mimi Kohler; Stuttgart, Germany;
© Foto: privat

Hier stellt sie sich offenbar in die gute Tradtition des als Konzept-Künstlers bekannten Christian Jankowski, bei dem sie in Stuttgart studiert. Sie ist auch Tutorin der Klasse Jankowski an der Kunstakademie Stuttgart. All dies neben zwei weiteren Nebenjobs und ihrer eigenen künstlerischen Arbeit, die sie sicherlich und hoffentlich weiterhin im Fokus behält.

Störungen sind ja inzwischen ein Dauerthema in der Kunst; per Google (natürlich) finde ich folgenden Text dazu:

Ein Regelbruch wird zur Ausstellung: Die Kunst der Störung in München | Baukunst
Im Frühjahr 2024 sorgte ein ungewöhnlicher Vorfall in der Pinakothek der Moderne in München für Aufsehen: Ein technischer Mitarbeiter, zugleich freischaffender Künstler, brachte eigenmächtig ein von ihm geschaffenes Kunstwerk in der Ausstellung an. Dieses Ereignis, das als “Glitch” bekannt wurde, führte zu intensiven Diskussionen über die Grenzen des Museumsbetriebs und die Definition von Kunst.
Nun, einige Monate später, wird das einst kontroverse Werk im Rahmen der Sonderausstellung “Sammlung Familler – Die Kunst die stört” präsentiert. Diese Ausstellung widmet sich der “Kunst der Störung” als globalem Phänomen und untersucht, wie Fehler und Unvorhergesehenes kreative Prozesse beeinflussen. Besucherinnen und Künstler hinterfragen dabei die Authentizität medialer Darstellungen und decken gesellschaftliche Ungleichgewichte auf.

Nun, dieser Fall, wahrscheinlich inspiriert von Banksy, war eine aktive Störung – eine Tat des Künstlers, der stören wollte, der die üblichen Abläufe sprengte.

Nun erlebe ich die (jedenfalls einige der) Werke von Mimi Kohler auch als Störung, aber auf eine ganz andere Art und Weise: die Künstlerin stört nicht aktiv unsere vorhandene Wirklichkeit, sondern sie zeigt auf Störungen, verweist unseren Blick auf existierende Störungen, auf Dysfunktionalitäten, die wir im Alltag erleben.
Das Distelsofa etwa, entstanden Distel für Distel in mühsamer, kontemplativer Fleissarbeit, war inspiriert vom Besuch eines Arbeits-Gerichtsgebäudes: Die Künstlerin entdeckte, dass es dort auffällig viele – jeweils sehr ungemütliche – „Warte-Bereiche“ gibt, in denen die Besucher dann wahrscheinlich warten, bis sie weitergeleitet werden zum nächsten Wartebereich.

Es geht also nicht um Arbeit oder gar um Entscheidungen, die getroffen werden, nein: es geht ums Warten.

“Kafkaesk“ werden manche dazu sagen, was insofern treffend ist, als auch Franz Kafka, etwa im “Prozeß“ uns die bürokratische, sich selbst genügende und nur um ihrer selbst willen existierende bürokratische Herrschaftsstruktur bewußt, sichtbar macht.
Kafkaesk ist nicht eine Welt, die der Künstler erfindet, kafkaesk ist die Wirklichkeit, in der wir leben.

Auch Mimi Kohlers künstlerische Vorgehensweise funktioniert so, dass sie nicht Störungen (Eingriffe, Interventionen) verursacht oder realisiert, sondern “umgekehrt“: diese sichtbar macht: ihre künstlerische Stärke liegt in ihrer besonderen Sensibilität – ihrer Wahrnehmung, für die sie Schritt für Schritt, Werk für Werk, eine ganz eigene Sprache erfunden hat und weiterentwickelt.

Dank der Analogie zu Kafka kommen wir jetzt in größeren Schritten voran: nur noch ein Beispiel, ein für mich zentrales Werk der Künstlerin, möchte ich hier anführen, um meine Sicht auf Mimi Kohlers Arbeit anschaulich zu machen: genauso wie bei Kafka die Bürokratie einerseits nur Selbstzweck ist, andererseits aber dennoch oder deshalb(?) ständig wächst, ausufert und bedrohlich, vielleicht bald allumfassend wird. Beängstigend real und aktuell dies alles.

“Stroke of Luck“ erscheint mir als das paradigmatisch stärkste Bild, mit welchem die Künstlerin eine überraschend vollständige Analogie zu unser heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit und digitalen Zukunft(?) zeichnet:

Bild links: Mimi Kohler „Stroke of Luck“, 2024; © Mimi Kohler
​Room installation.(variabel); oversized poker cards, perspex, wood glue, construction foam
© Foto: Jonathan Joosten

Pokerkarten, ein traditionelles Element des Glücksspiels und der Inbegriff von Zufall und Schicksal, werden in der Installation „Stroke of Luck“ in eine architektonische Struktur aus einer überdimensionalen Kartensäule verwandelt. …
Diese Arbeit wurde im Rahmen der Gruppenausstellung UNREAL ESTATE in Bukarest präsentiert.

Vollständigkeit und Perfektion allgemein sind wahrscheinlich notwendige Vorstellungen, die wir brauchen, um uns zu motivieren. Doch wir wissen schon, wie wohl auch Sisyphus ab dem vielleicht dritten oder vierten Versuch mit dem Felsblock bestimmt auch ahnte, dass Perfektion nicht erreichbar ist, dass der Versuch dazu scheitern wird. Genauso wie der auch der beste Programmierer sicher weiß, dass eine fehlerfreie Software nicht möglich ist.

Heute leben wir in einer Welt, die durch Digitalisierung (bei all deren Problemen und Rückschlägen) immer komfortabler, immer smarter wird: ein Beispiel aus dem Alltag: wer per Auto irgendwohin will, gibt die Zieladresse in Google ein – die Route (inkl. Der zu erwartenden Staus) ist schnell hochgeladen in die Google-Cloud (hat ja jeder, der bei der Installation seines Windows-PCs immer brav alle Installationsvorschläge bestätigt hat. Dann steigt man ins Auto, wo die Route gleich beim Start vom Navigationssystem angezeigt wird. Man kann inzwischen auch die smarte Armbanduhr mit dem Navi synchronisieren, dann piept die Uhr, wenn man falsch abbiegt oder es neue Staumeldungen gibt. In naher Zukunft werden die dann selbstfahrenden Autos (in Deutschland ein paar Jahre später, wegen der vielen Gesetze und Verordnungen und Praxistests und Genehmigungsverfahren und Gerichtsprozesse, die vorher notwendig sind) das alles alleine machen. Auf Zuruf dann auch mit der nachhaltigsten Route (die mit dem kleinsten CO2-Fußabdruck).

Denn der Text zur Ausstellung (mit dem Pokerkartenbild) oben geht noch weiter:
Bild links:
Eine Stunde vor der Vernissage brach die Kartensäule zusammen. Den bisherigen Zustand konnten die Besucher auf einem kleinen Foto sehen, das an die Wand genagelt war.

Bild oben: Mimi Kohler „Stroke of Luck“, 2024; © Mimi Kohler
​Room installation.(variabel); oversized poker cards, perspex, wood glue, construction foam
© Foto: Jonathan Joosten

Ein Luxus, eine Komfortleistung, die der technische Fortschritt möglich gemacht hat und über die wir uns durchaus freuen können. Es bedarf der Kunst, um sichtbar zu machen, dass die digitale Struktur dahinter, die diesen Komfort ermöglicht, die (fast unbemerkt von uns “nebenher“ aufgebaute) technische Struktur eines umfassenden, totalitären Überwachungssystems ist.

Doch Folgendes gibt uns Mut: Diese Struktur basiert ganz wesentlich auf Software. Sie wird also früher oder später zusammenbrechen, wie das Kartenhaus auch mit Sicherheit zusammenbricht:

„Wir müssen lernen“, so hat Peter Sloterdijk mal geschrieben, „uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorzustellen“.
In unseren Zeiten voranschreitender Digitalisierung müssen wir vielleicht alle lernen, was Software-Ingenieure – und eben auch Künstler – schon immer wußten:
Ein unvermeidlicher und unbedingt notwendiger Teil jedes Systems sind

Störungen.

Jürgen Linde im Juni 2025

Hier noch ein Überblick über die kommenden Ausstellungen und Projekte, die Mimi Kohler derzeit vorbereitet:
20.06. – 22.06.2025: | „Attacke der Retroavantgarde: Kunststudierende als KomplizInnen des Kunstmarktes
11.07. – 13.07.2025: | „Rundgang“, ABK Stuttgart (Germany)
23.08. – 22.11.2025: | „ECHOPraxia„, Kunstverein Kiss, Untergröningen (Germany)