Hinkelstein 61 | 23.11.2025 | Gleichschaltung der Phantasie

Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg:
Am Sonntag frisch auf den Screen

Bild oben: © ZKM Karlsruhe,  AI-Generator »intelligent.museum«

Heute nun kommen wir zurück auf eines unserer anderen Schwerpunktthemen – Entwicklung der Mediengesellschaft, Internet, “Social Media“.

Hiermit hatten wir uns zuletzt gemeinsam befasst im Hinkelstein 58 | 12.10.2025: | turn; untertitelt mit : Alles wird gut?
Auch hier also waren wir tatsächlich positiv gestimmt, motiviert durch aktuelle Zahlen .v.a. aus der aktuellen ARD / ZDM-Medien-Studie, die für die Zeit seit 2023 einen langsamen Rückgang der Social-Media-Nutzung dokumentiert.
Bei genauerer Betrachtung des umfangreichen Zahlenwerks zeigt sich aber, dass dieser Trend zwar besteht, insgesamt aber so marginal ist, dass es sich durchaus um eine statistische Schwankung handeln könnte.

Bild links: Tanja Pohl: Figur im Dunkel / 2019 Öl auf Hartfaser / 105 x 77 cm
Tanja Pohl u.a. | bis 03.05.2026 | Thüringer Museum Eisenach | GegenLicht

Selbst noch immer eher optimistisch ist klar: wir können noch keine “Entwarnung“ geben. Weiterhin beeinflussen “Social Media“ die Weltbilder, die Wirklichkeitswahrnehmung von sehr vielen; immer mehr Menschen informieren sich fast nur oder sogar ausschließlich durch “Social Media“-Kanäle, für Verschwörungstheorien aller Art besteht hier ein Freiraum, den es in den klassischen Medien nie gab und kaum geben konnte.

Immer öfter befassen sich Krimis (in Büchern und im Fernsehen; gute Krimiautoren haben ja ein seismographisches Feingefühl für gesellschaftlich-brisante Entwicklungen: dazu gleich noch zwei Tipps aus eigener „Seh-Erfahrung“:
Insgesamt 55% der über 14jährigen deutschsprachigen Einwohnern, die die ARD/ZDF-Medien-Studie jährlich befragt, nutzen noch immer gelegentlich das „lineare Fernsehen“; bin selbst einer von denen, die zunehmend auf zeitversetztes Fernsehen wechseln: Nach einem langen Tag am Schreibtisch finde ich es entspannend, in der ARD-Mediathek abends noch einen Krimi zu schauen – ja: natürlich Tatort oder Polizeiruf:
Dazu also zwei Beispiele, in den Verschwörungstheorien eine zentrale Rolle spielen:

Tatort: Borowski und das ewige Meer – hier anschauen
Thema ist hier eine KI-gestützte (nicht real existierende) Leaderin, die ihre meist anorektischen Followerinnen in den Selbstmord treibt …

Polizeiruf 110: Sie sind unter uns – hier anschauen

Grundsätzlich stellt sich uns die Frage: Können Medien die Welt verändern?
Der an dieser Stelle eigentlich nötige medientheoretische Exkurs (der, vielleicht demnächst als “Hinkelstein-Extra“ erscheinen wird) würde uns zu weit weg führen von unserem Thema, das ich hier deshalb so fokussiere:
(Wie / inwieweit) Entstehen aus der vielleicht doch doch weiter wachsenden Nutzung von Social Media und Smartphones Gefahren – für unsere Psyche und für unsere demokratische Gesellschaft?

Also: Können Medien die Welt verändern?
Ja, klar. Mit der Erfindung der Druckmaschine hat Johannes Gutenberg die Grundlage gelegt für alles, was wir heute Massenmedien nennen. Die Möglichkeit, Texte (Flugblätter, Bücher, Zeitungen / Zeitschriften in immer höherer Zahl (Auflage) zu drucken, war eine Revolution, die unsere Welt nachhaltig verändert hat.

Gerne wird ja auch die Reformation hierzu in Verbindung gesetzt: hätte Martin Luther seine 95 Thesen in Stein meißeln müssen (so wie die römischen Feldherren ihre peinlichen Schlacht-Berichte(“104 tapfere Gallier verjagen 800 hochgerüstete römische Profi-Soldaten“) in dreifacher Ausfertigung meißeln mußten, wenn sie mal wieder von Asterix, Obelix und deren zaubertrankgedopter Dorfmannschaft ordentlich verprügelt worden waren) hätte es wahrscheinlich doch noch etwas länger gedauert mit der Reformation.

Heute betrachten wir das Internet als eine mindestens vergleichbar große Revolution, die, etwa durch die Omnipräsenz der Smartphones, ohne das die meisten Menschen keinen Schritt mehr aus dem Haus gehen, ….unseren Alltag längst gänzlich verändert hat.

Den Alltag aller Menschen – über alle beruflichen/sozialen Schichten hinweg ist das Handy Teil unseres Alltags geworden – unverzichtbar, nicht mehr wegzudenken für viele von uns.

Wir sehen es in jedem TV-Krimi: kümmern sich die Kommissare um ein Mordopfer, so suchen sie erst mal dessen Handy: hier erhoffen sie sich Einblick sowohl in das private und berufliche soziale Umfeld des Toten als auch Erkenntnisse über der Verlauf der letzten Stunden und Tage vor der Tat – wann und mit wem und wie oft hat der Tote in der letzten Zeit kommuniziert) In welche Funkzellen war er eingeloggt, wo überall hat er sich bewegt, wo war er, wer ist er?

Ist das Handy des Toten nicht auffindbar – dass er keines hatte, gilt als undenkbar – aber vielleicht hat ja der Mörder es mitgenommen und so die Polizei vor eine sehr schwierige Aufgabe gestellt. Denn erfahrungsgemäß haben ja die eventuell vorhandenen Zeugen (oder die Anwohner am Tatort grundsätzlich gar nichts oder wenigstens nichts Genaues bemerkt oder gesehen – wahrscheinlich haben sie selbst gerade auf einen Bildschirm gesehen …

Die oben erwähnte ARD-ZDF-Medien-Studie erfasst nur Altersgruppen ab 14 Jahren. Nun lesen wir immer häufiger, dass und in welchem Umfang schon Kinder das Internet nutzen, bzw., ich möchte dies umformulieren: wie effektiv das Internet schon Kinder erreicht:

Beim Institut für empirische Sozialforschung (eine ebenfalls hochwertige Quelle) lesen wir:
In Haushalten mit Kindern unter 6 Jahren gibt es heute durchschnittlich 4 bis 5 internetfähige Geräte. Bereits 72 Prozent der Kinder zwischen 0 und 6 Jahren bzw. 81 Prozent der 3- bis 6- Jährigen nutzen diese zumindest gelegentlich selbst. Im Vergleich zu 2013 (41 %) ist damit in der Altersgruppe der 3- bis 6-Jährigen eine Verdoppelung festzustellen.

Durchschnittlich kommen die Kinder im Alter von einem Jahr erstmals mit digitalen Medien in Kontakt. Am häufigsten beschäftigen sich die Kinder dabei mit dem Tablet (32 %), gefolgt vom Smartphone (30 %) und dem internetfähigen Fernseher (21 %). Computer und Laptop spielen mit 4 Prozent mittlerweile nur mehr eine geringe Rolle.

Na und? Könnte man fragen, die Welt verändert sich eben. Als nach dem Krieg Fernsehgeräte (damals noch mit Röhrenbildschirmen: klein, unscharf, untragbar schwer) wachsende Verbreitung fanden, hatten auch viele Sorgen, dass dies gerade für Kinder gefährlich sein könnte. Heute sind Fernseh-Geräte überall, lange schon haben wir uns daran gewöhnt und kein Problem damit. warum auch – Fernsehen ist ja etwas sehr schönes; NIna Hagen hat dies schon vor vielen Jahren stimmgewaltig gewürdigt: Ich glotz TV

Für die Kinder von heute wird es in 25 Jahren genauso sein: das Smartphone ist jederzeit und überall ein nützlicher Begleiter – zum Kommunizieren, zum Medien konsumieren, zum Einkaufen, zum Bezahlen etc.
Wir heute Erwachsenen haben nur Angst, weil sich das alles für uns alte Säcke noch immer so neu (und teilweise auch unverständlich) anfühlt“.
Als kinderloser Erwachsener fühle ich fühle ich mich im Sinne des kursiv gestellten fiktiven Zitats durchaus als voreingenommen. Immer schon haben weitreichende Neuerungen für – dann meist – irrationale Ängste gesorgt.

Doch was die Internet- und die Smartphone-Nutzung von Kindern betrifft, so sehen Mediziner und Psychologen diese Entwicklung mit großer Sorge; die Rede ist von einer gleichzeitigen deutlichen Zunahme psychischer Probleme (Verhaltens -, Ess- und Lern-Störungen etc.; auch das sogenannte Cybermobbing hat offenbar beängstigend zugenommen.

Nun bin ich weder Arzt noch Psychologe, kenne mich aber mit Medien ein wenig aus und behaupte dass mit der Interaktivität digitaler Medien tatsächlich neue Gefahren entstehen, oder die Gefahren eine neue Qualität haben:
Ganz profan: Digital-User rufen nicht nur Inhalte ab, sondern sie werden auch digital kontaktiert. Mit Kaufangeboten, Verschwörungstheorien, Verlinkungsvorschlägen oder einfach als Follower irgend eines Leaders.

Als Kunstfreund nenne ich dieses Medienphänomen: same same but different

Wer meine medien- (und v.a.) internetkritischen Texte aus unserer Hinkelstein:-Reihe kennt, weiß ja , dass ich die kulturelle Entwicklung unserer Medien-Gesellschaft einerseits und politische (globale) Entwicklung in Richtung autoritärer (perspektivisch totalitärer) Gesellschaftssysteme im Zusammenhang sehe und analysiere:

Wenn “soziale Medien“ und damit ja auch die sehr bewußt durchkapitalisierte Konsumwelt heute schon Kinder erreicht in einem Alter, in welchem man uns früher noch schöne Märchen zum Einschlafen hätte vorlesen sollen oder dies – in bildungsbürgerlich privelegierten Schichten – sogar getan hat, so liegt darin ernsthaft Gefahr.

Bleiben wir beim Märchen: ob vor- oder selbst gelesen: Viele kennen Michael Endes “Unendliche Geschichte“ (1979) (Das Buch ist toll – in jedem Alter), wo ja Atréju, der Held der Geschichte – und, das ist genial: jeder Leser kann, so wie Bastian in Endes Buch, in diese Rolle schlüpfen, sich auf den Weg macht, um Phantasien zu retten. Phantasien, ein recht geheimnisvoller und uns doch so vertrauter Ort wird bedroht vom (nochmal eine geniale Metapher:) NICHTS

Während für alle, die diese Geschichte gelesen haben (auch die Verfilmung ist gelungen) ganz außer Frage steht, dass Phantasien gerettet werden muss – um jeden Preis und trotz aller Gefahren, die selbst Indiana Jones ein wenig ins Schwitzen bringen würden.

Doch ganz aus der Zeit gefallen erscheint mir die Vorstellung, heute einem Kind aus einem derart dicken Buch vorzulesen. Zwar gelingt es dem Märchenautor Michael Ende, ständig die Spannung aufrechtzuerhalten, so dass das dann friedlich einschlafende (und sich in die wunderbare Märchenwelt träumende) Kind am nächsten Abend bald schlafen gehen will, um endlich zu erfahren, wie es weitergeht.

Bild oben: Plüsch, einer vom Team
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, Foto: Andy Koch
ZKM Karlsruhe | ZKM Karlsruhe | 30.11.2025 – 01.08.2026 | ab 30.11.2025; 11 Uhr:
Ist das lebendig oder tut es nur so? Der erste Elektronische Streichelzoo am ZKM | Karlsruhe

Eher doch sitzt das Kind nach dem Abendessen noch ein Stunde an seiner Spielkonsole, wo man ja auch in grafisch perfekte Märchenwelten eintauchen und sogar interaktiv mit anderen Spielern gemeinsam oder gegeneinander spielen oder kämpfen kann. All dies aber auf gut geplanten und keineswegs interessefreien Wegen auf denen auch Platz ist für kindgerechte Werbung. Es erscheint mir so, dass es in der heute vollständig durchkapitalisierten und – kommerzialisierten Medienwelt, keinen Bedarf und keinen Raum mehr gibt für eigene Fantasie:

Was schön ist, was wir haben (=kaufen) können, was wir wollen sollen, wird uns medial vorgegeben: wie sollten denn 5jährige, die schon auf ihren Spielkonsolen und Smartphones Märchen als Konsumprodukte vorgeführt bekommen, in der Lage sein, eigene Fantasie zu entwickeln?.Wo es doch gerade den SpiderMan-Anzug bei temu („shopping like a billionaire„) für nur 14,99 €, aber nur noch bis morgen 18 Uhr im Sonder-Angebot gibt!

Wahrscheinlich ist man heute schon Follower, bevor man richtig lesen und schreiben kann. Stattdessen lernt man als Follower dann schnell, dass es eigentlich dank KI und Spracheingabe, längst nicht mehr nötig, sondern eher vielleicht total anachronistischer Schwachsinn ist, überhaupt Lesen und Schreiben zu lernen? Es genügt ja, halbwegs deutlich zu sprechen (oder an der richtigen Stelle das blinkende/ das auffälligste Icon anzuklicken), um jeden Weg zu finden, um jedes Produkt zu bestellen – falls Papis Bank-Apps noch Bonität haben …? .

Wenn ich dann lese, dass längst auch KI-Programme entwickelt wurden/werden, die auf eine kindgerechte Kommunikation hin optimiert arbeiten, so fürchte ich, dass die digitale Gleichschaltung schon irreversibel fortgeschritten ist..

Denkbar vielleicht, dass wir alten Leute uns da irgendwie raushalten können … Der Künstler (Schauspieler) Ulrich Tukur jedenfalls scheint diese Option zu sehen. In einem Interview mit der FAZ (s.u.) sagt er, dass er noch „ein Auto ohne diesen blödsinnigen digitalen Schnickschnack“ fahre.
Gleichzeitig sieht er glasklar die Gefahren, mit denen jüngere Menschen und kommende Generationen zu kämpfen haben werden: Im selben Interview („Ich mache weiter, bis ich umfalle“ in der FAZ vom 06.11.2025; Seite 8) zum Thema “Altern“ hat der 68jährige Ulrich Tukur dies sehr gut beschrieben:

(FAZ:) Altern wir in virtuellen Welten schneller?
Ulrich Tukur:
Gesund ist es jedenfalls nicht. Ich beobachte mit Schrecken, wie sich Menschen in dieser Parallelwelt immer ähnlicher werden und rapide verblöden. Wir sind ja ur­alte, haptische Wesen, und unsere Phantasie entwickelt sich doch nur, wenn wir in der Lage sind, eigene Bilderwelten zu ­kreieren. Das läuft über die Sprache. Ich fürchte, wenn man als Kind unablässig mit fremden, elektronisch generierten Bildern zugeschüttet wird, wird sich keine wirk­liche, unabhängige Persönlichkeit ent­wickeln können. Was das für die Gesellschaft der Zukunft und unsere Demokratie bedeutet, wage ich mir nicht vorzustellen.

Ulrich Tukur, als Schauspieler natürlicherweise auch ein sehr guter Beobachter, wagt, was verständlich ist, nicht, sich vorzustellen (zu imaginieren), was: in meinen Worten eine technologisch totalitäre Gesellschaft aus dem Menschlichen macht, was da noch bleibt.

In einem früheres Textbeitrag (2021) für das kunstportal-bw habe ich ich Überlegungen zur Möglichkeit des technologischen Totalitarismus angestellt und darüber geschrieben, wie auf der Basis der Digitalisierung eine tiefgreifende Gleichschaltung unserer Sprache und damit unseres Denkens, eine Gleichschaltung der Kultur, möglich ist:
Die affirmative Wolke – KUNSTPORTAL BADEN-WÜRTTEMBERG

Angesichts der heutigen Entwicklung, in der auf der Basis interaktiver (und mit kindgerechten KI-Programmen) schon Kinder erreicht (und auf Linie gebracht) werden können, muss ich noch einen Schritt weitergehen:

Während der Prozeß der Gleichschaltung der Sprache, dabei nebenher auch eine Gleichschaltung des Geschichtsbildes, der Weltsicht, in autoritären Ländern (China, Rußland) und in autoritärer werdenden Ländern (USA) längst im Gange ist, ist heute ein noch weiter gehender Schritt in Sichtweite:

Digital möglich erscheint mir die
Gleichschaltung der Phantasie.

Gar nicht einfach, nach dieser dystopischen Gesamtschau noch positive Wünsche zu formulieren. Doch einen letzten Anker entdecke ich: Während die Gleichschaltung der Kultur (sehr gut sichtbar in den USA) bereits im Gange ist, sehe ich weiterhin nicht die Möglichkeit / die Gefahr einer Gleichschaltung der Kunst, weil diese ohne Freiheit undenkbar ist. Bliebe nur, die Kunst ganz abzuschaffen, doch ist dies überaus schwierig oder gar ganz unmöglich, was Asterix und Obelix seit vielen Jahrzehnten immer wieder beweisen: das gallische Dorf und die Freiheit sind unzerstörbar.

In diesem Sinne nun also die
guten Nachrichten am Sonntag, dem 23. November 2025

Neu am 23. November 2025: | Künstler | 11.12.2025 | Boris Petrovsky u.a. | Einlass: 19 Uhr | Konzertbeginn: 20:30 Uhr | Apollo Kreuzlingen: Dystropicania trifft hoch zufriedenstellende Industriemaschinen.
Neu am 23. November 2025: | ZKM Karlsruhe | 05.04.2025 (verlängert) bis 21.05.2028 | Lichthof 1 + 2; EG: | The Story That Never Ends. Die Sammlung des ZKM
Neu am 23. November 2025: |  Newsletter Hinkelstein: | So frisch auf den Screen: Hinkelstein Nr.61 am 23.111.2025: | Gleichschaltung der Phantasie

Jürgen vom kunstportal baden-württemberg