Die affirmative Wolke

Überlegungen zur Möglichkeit des technologischen Totalitarismus

Digital-Kapitalismus – die affirmative Wolke

Wer unser kunstportal-bw-Feuilleton verfolgt, weiß, dass ich immer wieder die Gefahr eines technologischen Totalitarismus thematisiere. Eine mögliche gesellschaftliche Entwicklung, vor der ich (nicht als einziger) warne.
Immer wieder fokussieren sich Gespräche zu diesem Thema auf die Frage, ob, beziehungsweise wie denn eine solche Herrschaftsform, die ja ohne personalisierten Herrscher auskäme, überhaupt denkbar sei. Tatsächlich bin ich hier – meinen Diskussionspartnern und mir selbst – eine Erklärung schuldig.

Dazu nun der folgende Versuch, den ich, um die Länge des Beitrages nicht zu sehr ausufern zu lassen, im essayistisch ja erlaubten Überfliegermodus texte.
Wie sicherlich die meisten Autoren, die bisher zum technologischen Totalitarismus (in der FAZ und anderswo) geschrieben haben, sehe ich dieses dystopische Paradigma als neue Stufe des Kapitalismus – vereinfachend könnten wir insofern vom Digital-Kapitalismus sprechen.  

Jetzt also im angedrohten Überfliegermodus:

  1. Der (alte) Kapitalismus: Wie stark der Kapitalismus, v.a. also der Industriekapitalismus (Dampfmaschine, Taylorismus …) unsere Welt verändert hat und unsere heutige Realität prägt, ist hinreichend (in ganzen Bibliotheken) aufgearbeitet und kaum strittig.

In soziologischen Erklärungsmodellen des Kapitalismus spielt immer wieder die Maslow’sche Bedürfnispyramide eine wichtige Rolle; diese ist auch für unser Paradigma des Digital-Kapitalismus wichtig. (Abraham) Maslows Modell ist eine Vereinfachung, die wir hier kurz zusammenfassen: Die menschlichen Bedürfnisse stehen in einer Hierarchie: Zuerst kommen die Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen, Sex), dann folgen Sicherheit (Wohnen, Arbeit, Einkommen), dann die sozialen Bedürfnisse (Partner, Freunde, Liebe) danach dann Individualbedürfnisse (Anerkennung, Geltung) und schließlich ganz oben (oben hier im Sinne von zuletzt) die Selbstverwirklichung.

Zweifellos ist dieses Modell, das mir im Kern sehr überzeugend erscheint (etwa im Sinne von Bertold Brecht: “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral”), durchaus streitbar; unklar etwa ist, ob/wo wir einen Platz für die Religion finden könnten, die ja auch Wesensmerkmal aller uns bisher bekannten Zivilisationen ist …Wahrscheinlich aber sind wir uns einig, dass Kunst und Kultur in dieser Hierarchie erst am Schluss – im Rahmen der Selbstverwirklichung einen Platz fänden.

Nun versteht sich ja der Kapitalismus als eine Marktwirtschaft: Im Markt erscheinen Bedürfnisse ökonomisch – als Bedarfe – oder auch als Konsumbedürfnisse und tatsächlich artikulieren sich ja die 3 unteren, also zunächst wichtigsten, drei Ebenen als Konsumbedürfnisse: wir kaufen Lebensmittel und mieten (oder kaufen) Wohnraum.
Die Individualbedürfnisse (Geltung, Anerkennung) entstehen im kapitalistischen Klassen- oder Schichten-System quasi nebenher. Der Sozialstatus ist dann auch wieder ein Marktfaktor, der sich als mehr oder weniger starke Kaufkraft manifestiert – der Reiche isst besser und wohnt komfortabler.

Versuche, dieses oft als ungerecht empfundene kapitalistische Klassensystem zugunsten eines sozialistischen Systems zu überwinden, sind im Westen gescheitert. Geblieben ist – bislang jedenfalls – eine politische Streitkultur: ein Mehrparteiensystem, in welchem verschiedene politische Strömungen/Ideologien um den besten politisch-gesellschaftlichen Weg demokratisch-friedlich streiten. In der in Deutschland entstandenen sozialen Marktwirtschaft wird die Systemfrage de facto längst nicht mehr gestellt.

Eine ganz andere Frage wäre, ob oder inwieweit das chinesische Modell – kurz: kapitalistische Produktion in einem politisch autokratischen System – unserer westlichen Streitkultur unter Effizienz-Kriterien überlegen ist. Diese Frage, die hier zu weit führen würde, führt uns aber direkt zum 2. Kapitel:

2. der Digital-Kapitalismus
Offenbar verändern Digitalisierung und Internet die Gesellschaft Chinas anders als unsere westliche Welt. Während selbst die USA, die Heimat der Datenkraken, mit der (Meinungs-)macht eben der Tech-Riesen durchaus politische Probleme hat, scheint Chinas politische Kontrolle des Internet sehr gut zu funktionieren. Viele sprechen von einem High-Tech-Überwachungsstaat.

Was ist neu am Digital-Kapitalismus?
Weiterhin steht natürlich der Konsum im Mittelpunkt der Gesellschaft; die digitale Abwicklung des Konsums schafft Optionen, die es analog noch nicht gab: Man bestellt ein Buch bei Amazon und erhält sekundenschnell eine Empfehlungsliste: “Andere, die dieses Buch gekauft haben, interessierten sich auch für folgende Artikel“ – Ihre “Geschmacksrichtung“ wird bestätigt und unterstützt, mit jeder weiteren Bestellung immer präziser. Bücher und sonstige Artikel anderer Inhalts- oder Denkrichtungen werden ausgeblendet.

Auch in der politischen Meinungsbildung, bzw. -Manipulation, sehen wir – aus der Digitalisierung heraus so erst mögliche – neue Mechanismen, die zu einer immer wieder sich selbst bestätigenden Vereinheitlichung führen. Neben international möglichen Desinformationskampagnen, wie sie im letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zu erleben waren, bewirken auch offenbar die Algorithmen, mit denen die Datenkraken ihre Auswahl an Veröffentlichung von Meinungsbeiträgen steuern, dass jeweils eine bestimmte (vorherrschende oder auch manipulierte?) Meinung die weitere Selektion bestimmt und sich somit immer selbst verstärkt.

Die früher noch eher witzige Informatiker-Erkenntnis (“EDV=Eigenes Denken Verboten“) erhält hier eine neue Bedeutung.  Und “Der eindimensionale Mensch“ (1964) von Herbert Marcuse gewinnt erschreckende Aktualität: Herrschaft und Gleichschaltung bewirken in diesem Paradigma, dass der Mensch selbst seine Kritik – und Urteilsfähigkeit verliert.

Nehmen wir erneut die Maslow’sche Bedürfnispyramide zur Hand und legen sie “als Folie“ auf den eben beschriebenen Digital-Kapitalismus: Sichtbar wird, dass inzwischen alle Ebenen der Bedürfnispyramide vollständig als Konsumbedürfnisse abgebildet/verstanden werden können:
Der entstehende Tunnelblick auf Konsum hat immer eine Antwort: Sagt man zu Alexa (dem Avatar in Amazons Haushaltsroboter): „Mir geht es schlecht; ich fühle mich seit Tagen nur noch traurig“ – so bestellt Alexa sofort die geeigneten Ratgeberbücher zur Ermutigung oder vereinbart Termine mit einem “Personal Mental-Trainer” (Think positiv!)

3. Technologischer Totalitarismus
In diesem Paradigma der umfassenden Kontrolle, auch durch Reduktion von komplexen Problemen auf Konsumbedürfnisse, braucht es womöglich wirklich keinen personalen Herrscher mehr. Die Herrschaftsstruktur hat ihren Ort in unseren Köpfen – unsere Gehirne werden zu affirmativen Wolken. Die Menschen agieren wie die Avatare in der MATRIX.

4. Die Kunst
Für Kunst, Religion und Transzendenz gibt es sichtlich keinen Raum mehr in der affirmativen Wolke. Diese Begriffe werden aus Google gelöscht. Und (spätestens seit George Orwells „Newspeak“ in 1984) wissen wir: Etwas, für das es keinen Begriff gibt, existiert nicht.
Und was es in Google und Amazon nicht gibt, existiert schon gleich mal gar nicht.

5. Hinkelstein
Noch aber existiert die Kunst und ist lebendig: In einer Gesellschaft, die nur noch aus Konsumwelt und Medienwelt zu bestehen scheint, wobei sich beide Bereiche zunehmend bis zur Deckungsgleichheit überschneiden, erscheint die Kunst als das kleine gallische Dorf, die letzte – aber “uneinnehmbare“? – Burg des Widerstandes. Die Kunst, die ja selbst die oben beschriebene Entwicklung auf immer vielfältigere Weise reflektiert, wird zum letzten Hort der Freiheit, des Menschseins.
Für die Kunst sollten wir noch mehr tun.

Jürgen Linde, Juli 2021