Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg:
Am Sonntag frisch auf den Screen

Bild oben: © ZKM I Karlsruhe, ÖWF/Florian Voggeneder
Kurze Abschweifung:
Die Idee erscheint auf Anhieb nicht schlecht: Abstand gewinnen, um den Überblick zu bekommen? Das ZKM Karlsruhe jedenfalls fliegt 2026 zum MARS.
Ja, hier on Earth wird sowieso alles zu teuer, Budgets werden gekürzt etc., also nix wie weg? Doch wer bezahlt die Flugkosten?
Angesichts des sehr kritischen Ansatzes des ZKM-Mars-Teams dürfte Elon Musk als Sponsor kaum in Frage kommen:
ZKM | Hertzlab | MARS! Mobilizing Awareness for Resilient Societies
Nun, nachdem unser Antrag auf MFG (MitFlugGelgenheit – also sinngemäss nach „Per Anhalter durch die Galaxis“ – leider abgelehnt wurde, hat Ernst, der leitende (leidende) Chief Financial Organization des kunstportals-bw (allen bekannt aus Hinkelstein Nr. 60) klar entschieden:
Hauptsache egal! Wir bleiben am Boden und halten den Ball flach.
Aber die Kunst halten wir hoch!
Nachdem wir im Hinkelstein 61 über die denkbare, wahrscheinlich drohende, womöglich schon irreversibel voranschreitende Gleichschaltung der Phantasie nachgedacht haben, stand vor zwei Wochen das Thema Kunst und KI im Fokus unserer Überlegungen.
Zwei Themen also, die offensichtlich in Zusammenhang stehen und doch gleichzeitig jeweils alleine ihren Raum im Hinkelstein beanspruchen und verdienen.
Zum Thema KI stapeln sich auf meinem Schreibtisch die Zeitungsausschnitte; notdürftig sortiert nach den Aspekten, die ich durcharbeiten muss, um zumindest zu glauben, einen Überblick gewinnen zu können:
– KI und Hirnforschung
– KI und die Riesenaufrüstung der Techkonzerne mit Rechenzentren (sogar mit Elon Musks Space X im Weltall: da gibt es (billige) Sonnenenergie und ein gutes Klima für das Kühlsystem (-273,15 °C)
– Generative KI
– KI und Quantencomputer
Als Texter beim kunstportal baden-württemberg arbeite ich natürlich ständig mit (immerhin 2) Computern, bin aber eben kein Informatiker, sondern nur Journalist, sicher kein Fachmann für KI.
Hilfreich ist es vielleicht, durch die bewusste Wahl einer Perspektive das Thema genauer zu fokussieren: Wir beim kunstportal interessieren uns ja weniger für die technisch-wissenschaftlichen Perspektiven dieser neuen und revolutionären Technologie, als vielmehr für deren gesellschaftliche Auswirkungen – insbesondere auf die Kunst.
Ich beneide nicht die derzeit wahrscheinlich Hunderte von Philosophie- , Soziologie- und Medienwissenschafts-Studenten, die gerade an ihrer Magisterarbeit oder Promotion im Themenfeld „KI und Gesellschaft“ arbeiten. Die permanente Flut an Nachrichten über immer wieder neue technische Ansätze und Weiterentwicklungen lässt es unmöglich erscheinen, diese Arbeit auf einem aktuellen Stand fertigzustellen.
Auch deshalb bleiben wir heute bei der Kunst.
Den Hinkelstein Nr. 62 hatten wir ja beendet mit einem Zitat von Peter Weibel:
»Die Aufgabe der Kunst besteht darin, Türen zu öffnen, wo sie keiner sieht.«
Wenn wir uns die radikale Offenheit, die Peter Weibel auszeichnete, zu eigen machen, so können wir nicht ausschließen, im Rahmen eines zukünftig erweiterten Kunstbegriffs auch KI-gestützte oder KI basierende Werke, als Kunst zu behandeln und darüber kritisch zu reflektieren.
Bis heute aber erscheint mir die Kunst – die Kunst, wie wir sie bisher begriffen haben, eher in klarem Gegensatz zu stehen zur heutigen digitalisierten Welt, die noch immer dominiert wird von den so genannten „Social Media“:
Hier erleben wir ja seit längerer Zeit, wie diese algorithmengesteuerte Welt zu extremen und eindimensionalen Weltbildern führt, was inzwischen durch zahlreiche Studien und Beiträge untermauert wird; hier ein Beispiel:
Algorithmische Radikalisierung Marlene Dräger; 06.02.2025Gesellschaft und Religion
Wie Echokammern die digitale Realität formen
„Kritische Stimmen, werden übergangen und ungehört entfernt. Die neu gefundene Community bietet für alles eine Erklärung. Und eh man sich versieht, landet man bei Verschwörungstheorien und Fake-News.“
Marlene Dräger ist Politikwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen, Friedens- und Konfliktforschung sowie politischer Soziologie. Derzeit schließt sie ihr Bachelorstudium an der Philipps-Universität Marburg ab. Ihre Abschlussarbeit widmet sich der politischen Radikalisierung auf TikTok durch individualistisch kuratierte Algorithmen.
( Algorithmische Radikalisierung – Die Politische Meinung – Konrad-Adenauer-Stiftung )
Kunst aber widersetzt sich grundsätzlich dieser Eindimensionalisierung der Wirklichkeit(sbetrachtung). Dies gilt in der Bildenen Kunst , genauso aber auch in der Musik oder dem Theater.

Bild oben: Rudolf Kurz: Torso, 1996; Sandstein/Stahl
Dies veranschaulichte vor wenigen Wochen der nachfolgende Beitrag in der FAZ:
FAZ am 03.11.2025; S. 11: Ein Dirigent geht in die intellektuelle Offensive | Von Jan Brachmann:
(…)So geht das nicht weiter! Josep Pons schüttelt den Kopf und schaut ins Leere: „Immer nur schwarz oder weiß, ja oder nein, goldrichtig oder grundfalsch. Attacke auf Attacke, schnelle Urteile überall. Wo kommen wir da hin? Die populistischen Politiker, die sozialen Netzwerke treiben uns allen Sinn für Ambivalenzen, für das Zweideutige, Zwielichtige, Unentscheidbare aus! Dabei brauchen wir diesen Sinn. Es ist doch gerade die Kunst, die uns diese Ambivalenz zumutet, die uns als Publikum damit konfrontiert, wie wenig eindeutig eine Entscheidung zu treffen ist und dass eine Entscheidung tragisch sein kann, die unter Zeitdruck getroffen werden muss.“ (…)
Kunst, wie wir sie kennen und lieben, bewegt sich immer in Räumen der Ambivalenzen und Widersprüche, der Uneindeutigkeiten und Unsicherheiten. Gute Bilder eröffnen neue Denkräume, Assoziationsebenen, sie beflügeln die Phantasie und provozieren eigenes (Nach-) denken; sie zeigen die Kontingenz der Welt.
In der Kunst gibt es keine eindeutigen Urteile, keine klaren Zuordnungen , im Gegenteil:
In allen Bereichen der Kunst finden wir dazu Beispiele: in der Bildenden Kunst, in der Musik und am deutlichsten (ganz explizit eben) vielleicht im Theater:
Nehmen wir ein bekanntes Beispiel, Shakespeares Macbeth:
Digital gedacht (Null oder eins?) ist der Fall ganz eindeutig: Macbeth ist des Mordes schuldig, hat er doch nachweislich König Duncan getötet (erstochen).
Shakespeare dagegen stellt alle vermeintlichen Eindeutigkeiten in Frage:
“Mein Herz so weiß“ – so beschreibt Macbeth, der Mörder, der sich an seiner Schuld zweifelt, seinen aktuellen Seelenzustand – war er doch nur der Ausführende einer Tat, die Lady Macbeth initiiert und geplant hatte.
Wo also liegt die Schuld? Shakespeare, so vermute ich, wußte auch nicht die Antwort; doch in seiner Kunst kennt und thematisiert er die richtigen Fragen.
Die Kunst jedenfalls liegt im Spannungsfeld ebendieser Bewertungen, in der Unsicherheit. Gut vorstellen können wir uns einen amerikanischen Gerichtsfilm, in welchem der rhetorisch brilliante (und nur ein klein wenig zynische) Star-Anwalt am Ende Macbeth raushaut vor einem Geschworenengerricht, das er von Macbeth “temporärer Unzurechnungsfähigkeit/Schuldunfähigkeit“ überzeugt. Macbeth bekommt 2 Jahre auf Bewährung mit verbindlicher psychologischer/therapeutischer Betreuung.
Lady Macbeth hat als Zeugin (und Ehefrau des Beschuldigten) ihr Aussageverweigerungsrecht genutzt.
Vielleicht sind die KI und die digitale Wirklichkeit überhaupt nicht in der Lage, in diese Spannungsbereiche der Wirklichkeit vorzudringen; vielleicht sind Uneindeutigkeit und Digitalität einfach unvereinbar?
Im Jahr 2021 hatte ich mein Künstlerinnenporträt über die Bildhauerin Michela A. Fischer (auch hier ging es am Rande um KI) so beendet:
Künstliche Intelligenz, auch dies schon ein streitbarer Begriff, mag möglich sein.
Digitale Transzendenz ist nicht möglich.
über Michela A. Fischer: The Day after tomorrow.
In unserem nächsten Künstlerporträt im Januar 2026, über den Bildhauer Rudolf Kurz – wird es nicht um Theater gehen, sondern, natürlich, um seine Bildhauerei, aber auch um Musik. Konkret um Keith Jarrett und dessen seeledurchwühlendes Vienna Concert – Jarretts wahrscheinlich größtes Kunstwerk.

Bild oben: Keith Jarrett; © Bild: Rose Anne Colavito / ECM Records
Musik, die uns bewegt und die korrespondiert mit der bildhauerischen Arbeit von Rudolf Kurz – der sich in kirchlichen wie weltlichen Kontexten wie auch diese Musik gleichermaßen souverän bewegt.
Angesichts seiner zahlreichen Skulpturen mit religiösen Motiven (Rudolf Kurz ist stark vertreten in Kirchen und Klöstern) stelle ich ihm (und auch mir selbst als Texter) sogar die Gretchenfrage …
Bei all diesen Fragen geht in der Kunst (ganz anders als in Social Media) um Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten, um Bewegungen; um Resonanzen, mit Douglas Adams (bezogen auf dessen vierteilige Romantrilogie „Per Anhalter durch die Galaxis“) gesprochen: um das Leben, das Universum und den ganzen Rest.
In den vielen der sich bei mir stapelnden Artikeln über KI wird werden diese Frage und die verblüffende Antwort immer wieder zitiert. Hier beantwortet die „digitale Wirklichkeit“
(konkret: ein extrem leistungsstarker Superrechner, wie wir ihn uns heute noch gar nicht vorstellen können; obwohl ja vielleicht Mark Zuckerberg und Elon Musk längst schon daran schrauben lassen)
all diese Fragen irgendwie unbefriedigend, aber immerhin doch glasklar: 42.
Anders die Kunst, die der Unsicherheit nicht entflieht, sondern diese lebt – die Kunst erzählt: über uns und aus uns heraus, sie handelt vom richtigen Leben:
und dieses ist ganz eindeutig:
bittersweet.
Auch unsere guten Nachrichten aus der Kunst vom 21.12.2025 zeigen die verblüffende, nahezu unermessliche Bandbreite der Kunst:
Neu am 21. Dezember 2025: | Künstler | Paul Blau | Paul Blau zum Jahreswechsel 2025/2026
Januar 2026
Neu am 21. Dezember 2025: | Städtische Galerie Karlsruhe: | Programm Januar 2026
Neu am 21. Dezember 2025: | Städtische Galerie Ostfildern | 18.10.2026 – 12.01.2027: | Elisa Lohmüller – geschliffene Tränen
Neu am 21. Dezember 2025: | GFjK Baden-Baden | bis 15.01.2026: | neuer Text: Künstlerin in Baden-Baden 2025: Sasha Koura
Neu am 21. Dezember 2025: | Städtische Galerie Karlsruhe: | Fr, 02.01.2025 | 16 Uhr: Führung „Özlem Günyol & Mustafa Kunt – Ratatataa“ mit Eric Schütt
Neu am 21. Dezember 2025: | Hinkelstein: | jeden Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 63 | 21.12.2025 | „bittersweet“
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen keinen bitteren, aber doch sehr vielfältigen, vielleicht nachdenklichen und in jedem Fall wunderschönen Advents-Sonnntag!
Jürgen Linde am 21.12.2025