ONLINE LOGBUCH – “Elan Vital – Poesie der Bewegung” – Entry #13

Städtische Galerie Böblingen | 07. 11.2021 bis 20.03.2022 | “Elan Vital – Poesie der Bewegung”

25.02.2022 Entry # 13 – „Kinetische Kunst von Kestas“

“Himmelswischer” von Kestas

“Es existieren keine starren Dinge, sondern allein werdende Dinge,keine Zustände, die bleiben, sondern nur Zustände, die sich verändern.Die Ruhe ist nur scheinbar oder vielmehr relativ.“(Henri Bergson)
 
Die als dreiteilige Serie angelegte Gruppenausstellung “Élan Vital-Poesie der Bewegung” wird an ihrer ersten Station in Böblingen exakt zum richtigen Zeitpunkt gezeigt: denn der im Geiste des französischen Philosophen und Nobelpreisträgers Henri Bergson (1859-1941) stehende Konzept-Faden, der sich durch die sich über drei Stockwerke im Museum Zehntscheuer verteilende Präsentation zieht, thematisiert die physische wie psychische Beweglichkeit, die in der gegenwärtigen, lähmenden Corona-Lage umso bedeutungsvoller erscheint.
 
Der zeitliche Spannungsbogen dieser dem Schlüsselbegriff „élan vital“, zu Deutsch der “Lebensschwungkraft”, gewidmeten Ausstellung erstreckt sich von avantgardistischen Kunstwerken der Klassischen Moderne über die 1960er-Jahre-Positionen bis hin zur brandaktuellen Gegenwartskunst. Insgesamt sind die sechs jungen Künstler:innen Selҫuk Dizlek, Thomas Lempertz, Tina Schneider, Kestutis Svirnelis, Manuela Tirler und Birgt Wilde mit auf das Thema und die Räumlichkeiten abgestimmten Installationen, Plastiken, Reliefs oder Objekten vertreten. Über das Zusammenspiel der Werke erschließen sich poetisch arrangierte Raumsituationen. Aber Vorsicht: Kunst! Es können sich hier auf jedem Stockwerk, an jeder Ecke und hinter jeder Ausstellungswand neue Überraschungen verbergen…
 
Anziehend und abschreckend zugleich geben sich beispielsweise die beweglichen Arbeiten von Kestutis Svirnelis, genannt Kestas. Indem der ursprünglich aus Litauen stammende Künstler auf Kombinatorik und Kinetik als künstlerische Ausdrucksmittel zurückgreift, könnten seine Gebilde wie präparierte Apparate, blutleer, ferngesteuert und entmenschlicht wirken. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Die oftmals roboterhaft technoid anmutenden Installationen, die sich teilweise wie Marionetten an Fäden gebaren,  lösen stattdessen unser Mitleid aus indem sie eindrückliche Erscheinungsbilder für die Tragik des Menschseins, des Siegens und des Scheiterns ergeben: Man kann die Sisyphusarbeit, die sein aus einem metallenen Kerzenständer, einem für Fahrzeuge handelsüblichen Scheibenwischer, einer Mülltüte und einem Anzugsakko zusammengesetzter “Himmelswischer” auf der Galerie-Empore tagtäglich im angestrengten Streben nach Höherem auf sich nimmt, lustig finden, aber eben auch angesichts der darin verkörperten Sinnleere tieftraurig davon berührt sein.

Unübliche, oftmals “arme” Materialien und außergewöhnliche Kombinationen kommen in den Werken von Kestas mit Vorliebe zum Einsatz. Fundstücke aller Art, etwa Altkleider, Sperrmüll, Stoffreste, etc. werden dabei gezielt und verspielt mit industriell vorgefertigten Produkten wie Plastiktüten und Abfallsäcke kombiniert. Immer finden Gebrauchsmaterialien kunstvolle Verwendung, die in unserer Konsumgesellschaft zuhauf produziert, verwendet und weggeworfen werden.
 
Mit den konsumierten Wegwerfprodukten stellt sich Kestas ganz in die Tradition des “objet trouvé”. Seine Vorgehensweise verschreibt sich dem sensibilisierten künstlerischen Umgang mit eigentlich kunstfremden Werkstoffen, wie es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts und spätestens seit den einschneidenden Neudefinitionen tradierter Kunstauffassungen seit den 1960er-Jahren zu beobachten ist.
 
Die Kombianationsfreunde bei Kestas kann hingegen als ein dadaistischer Querverweis auf gedeutet werden. Die Verwendung von Tierfell lässt unweigerlich an ein Schlüsselwerk des aus der Dada-Kunst hervorgehenden Surrealismus denken, namentlich die berühmte Pelztasse, die Meret Oppenheim (1913-1985) im Jahr 1936 schuf und die zu einer vielzitierten Ikone in der Kunstgeschichte wurde. Mit ihrer Verspieltheit habe die Künstlerin ihre männlichen Kollegen im Paris der 1930er-Jahre fasziniert, so lauten die Gerüchte. Sowohl der Dadaismus als auch der Surrealismus sind diejenigen Strömungen, in denen vorzugsweise auf halbautomatische Techniken zurückgegriffen wurde, um Zufälle, Traumwelten und Unterbewusstsein in den Werken zum Ausdruck zu bringen.
 
Kunsthistorisch relevante Bezugsgrößen schmuggeln sich wie Rückblenden hinzu und verweisen auf epochemachende Kulturströmungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.  Die als avantgardistische Fußnoten in Dialog gebrachten, in ihrer Komposition reduzierten, leisen Miniaturen von Thomas Ring und Max Ackermann bilden einen humorvoll-hintergründigen Beigeschmack zu den “mobilisierten”, “unter Stromzufuhr stehenden” Installationen von Kestas.
 
Ein weiterer Überraschungs-, wenn nicht Verfremdungsmoment erzählt der bildhauerisch begabte wie technisch versierte Künstler, der an der Stuttgarter Kunstakademie studierte, durch das subtile Integrieren von Bewegungssensoren, die die Gebilde beim Annähern wortwörtlich in Bewegung versetzten. Der Rückgriff auf die Kinetik, in der mit beweglichen Objekten, Bewegungen und Spiegelungen von Licht gearbeitet wurde und die hauptsächlich in Kunstrichtungen der 1960er-Jahren populär wurde, werden bei Kestas zur individuellen Methode, um seine dahinterstehenden Aussagen sozialpsychologische und gesellschaftspolitische anzureichern. Ob wie panisch um sich schlagend, sich aufblasend, in die Höhe strebend oder leicht pulsierend kann uns die sich mal aufsehenerregend, mal fast unmerklich bewegende Installations- und Objektkunst von Kestas überraschen, begeistern oder uns bisweilen erschrecken.
 
(Text: Corinna Steimel)