Kunst ist meine Droge – über Corinna Steimel

Corinna Steimel im kunstportal-bw Kunstvermittlerinnenporträt

Blick zurück nach vorn: seit 10 Jahren leitet Corinna Steimel die Städtische Galerie Böblingen in der Zehntscheuer – eine Erfolgsgeschichte: von Ausstellung zu Ausstellung steigen die Besucherzahlen. Am Beispiel der der aktuellen – also bislang auch erfolgreichsten – Ausstellung “Schall und Rau(s)ch“ gehen wir der Frage nach: wie ist das möglich?

Bild links: Corinna Steimel, © Foto: Sindelfinger Zeitung
“Ich habe eigentlich kein Erfolgsrezept“ sagt mir die Galerieleiterin im Gespräch. Ganz sicher – das sehen wir seit 10 Jahren in Böblingen – ist es keine “Anpassung“, kein „dem Trend hinterherlaufen“, das ihre starke Erfolgsbilanz erklären könnte. Ganz im Gegenteil gelingt es Corinna Steimel, mit ihren eigenen Themen die kommende Agenda in der Kunstwelt mit zu bestimmen.

So hat sie etwa mit der Ausstellung „Vertraute Fremde“ schon im Jahr 2014 heute heißdiskutierte Themen wie Migration oder Postkolonialismus in den Fokus der Kunst gerückt.

Immer wieder greift die Kuratorin Steimel gesellschaftlich wichtige Themen auf, wobei es ihr wichtig ist, durch die Verbindung oft zuerst abstrakt klingender Themen wie etwa „Vernetzung“ mit konkreten politischen Entwicklungen und/oder regionalen Bezügen aktuelle Kunst wirklich zu vermitteln. Durch die Bezugnahme auf Bekanntes erreicht sie ihre grundsätzlich umfassend gedachte Zielgruppe: alle Altersgruppen, Frauen und Männer aller Sozial/Bildungsschichten können, das ist Corinna Steimels Überzeugung, mit Kunst erreicht werden: Mit der Ausstellung „Netzwerkerinnen der Moderne – 100 Jahre Frauenkunststudium“ präsentierte Steimel ab Dezember 2019 traditionelle Werke aus der großen und gewichtigen Sammlung der Stadt Böblingen (mit Schwerpunkt der frühen Moderne) und gleichzeitig durchaus avantgardistische Arbeiten international etablierter Künstlerinnen, auch aus der Region – zum Beispiel in Stuttgart lebenden Künstlerinnen wie Min Bark oder Friederike Just.

Als weitere Meilensteine in der jüngeren Erfolgsgeschichte der Städtische Galerie Böbligen nennen wir zwei weitere Ausstellungen, die wir durch nachfolgende Links Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen, auf die wir im Rahmen unseres Kunstvermittlerinnen-Porträts aber nicht näher eingehen können:

Mit einem wahren Kraftakt in „18 Kapiteln; 18 künstlerischen Positionen“ (von 07.11.2021 bis 20.03.2022) wagte Corinna Steimel in Zusammenarbeit mit Birgit Wilde eine vielschichtige Reflektion über die Verbindung von Kunst und Leben: Élan Vital – Poesie der Bewegung
Im Böblinger Bilderbogen (22.10.2022 – 23.04.2023) vebindet Corinna Steimel die Präsentation wichtiger Künstler aus der Region mit der Thematisierung so wichtiger und schwieriger Themen wie dem Holocaust und den Zerstörungen der Nazizeit.

Bild rechts: Friederike Just vor zwei ihrer Arbeiten in Schall und Rau(s)ch”
 © Foto: Jan-Hendrik Pelz (auch selbst Künstler in dieser Ausstellung)

Neben den über 15 Ausstellungen, die Corinna Steimel in den letzten 10 Jahren in der Zehntscheuer präsentierte, wobei sie auf vielfältigen Wegen die Möglichkeiten der Kunstvermittlung erkundet und weiterentwickelt hat, hat sie auch durch künstlerische Eingriffe im Stadtbild weitere Wege zur Kunst eröffnet: mit den Graffity-Arbeiten der Walls of Fame konnte sie jüngere und ältere Bürgerinnen für die Kunst interessieren: Farbgewaltig und meist großformatig werden hier „Böblinger Berühmtheiten ins rechte Licht gerückt – im doppelten Sinne: mehrfach hat Steimel auch darauf hingewirkt, dass die passende Beleuchtung der Kunst im Stadtbild gerecht wird.

Tatsächlich finden auch wir kein Geheimrezept, das die Publikumserfolge der Kuratorin und Galerieleiterin Steimel so erklären könnte, dass man es etwa direkt übernehmen/nachahmen könnte. Stattdessen aber sind offensichtlich Neugierde und Offenheit für andere Themen wichtige Aspekte der Rezeptur, der Vorgehensweise. Corinna Steimel kümmert sich um jeden einzelnen Besucher. Die nicht ganz unbegründete Klischeevorstellung, dass (die oft auf älteren Sammlungen basierenden) Kunstausstellungen städtischer Museen sich ja eigentlich fast immer an bildungsbürgerliche Schichten richten – und damit eine zunehmende ältere, irgendwann womöglich aussterbende Zielgruppe – hat Steimel nie akzeptiert. Aus ihrer Sicht sind alle Menschen mit Kunst erreichbar, wenn man, bzw. frau, die richtigen Wege findet – gerne neue Wege: Graffity an Betonwänden der Stadt oder etwa auch die Ausstattung des Cafés der Galerie mit Kunstwerken sind nur zwei davon, für den neu entstehenden Stadtteil “Flugfeld” arbeitet sie – innerhalb einer Fachjury – daran mit, hierzu ein ortsbezogenes Kunst-Konzept zu entwickeln.

Mit neuen Inhalten und Verbindungslinien beschreitet beschreitet Corinna Steimel wieder neue Wege in ihrer aktuellen und schon jetzt erfolgreichsten Schau: “Schall und Rau(s)ch”: Dunstkreis der Dosierung.”

Bild links: Plakat zur Ausstellung:
“Schall und Rau(s)ch”: Dunstkreis der Dosierung

Mit wortspielerischem Humor im Titel beschäftigt sich diese Ausstellung auf umfassende und tiefgreifende Weise mit dem in der Kunst wie auch in der Gesellschaft interessanten Thema der Drogen aller Art. Schon die Eröffnung war – mit über Eintausend Besuchern – ein (be?-) rauschendes Fest der Kunst.

Alle Etagen der Böblinger Zehntscheuer nutzt die Kuratorin, um, über einen “regionalbezogenen“ Einstieg von den älteren Meistern (erneut greift sie hier auch auf die städtische Kunstsammlung zurück) bishin zur heutigen Avantgarde hochinteressante Kunstwerke in einen thematisch sowohl umfassenden als auch gleichzeitig überschaubaren Zusammenhang zu stellen. Mit einem historischen Böblinger Apothekenschrank, den viele ältere Böblinger noch vor Ort – “im Einsatz“ erlebt haben, startet die Schau mit einem Exponat, das wir alle noch erinnern: in den Apotheken, wo wir heute aus halbautomatischen Warentransportsystemen bedient werden, dominierten früher oft die schönen Holzschränke mit ihren zahllosen Schubladen den Laden, in dem ja immer schon Drogen verkauft wurden: von A wie Alkohol bis Z wie Zigarette können wir in der Ausstellung alles über Drogen lernen, von der Herkunft des Begriffs über die chemischen Zusammensetzungen – viele interessante und unterhaltsame Geschichten dazu (auf Text-Tafeln) zeigen uns, was genau eigentlich Drogen sind, welche es gibt und wie sie wirken.

Im optischen Zentrum der Ausstellung im Erdgeschoss stehen ein großer Labortisch mit etlichen Reagenzgläsern, in denen womöglich die Drogen gemischt wurden, deren chemische Formeln in schöner, alter Schrift plakatiert sind. An den Wänden, deren ausgewählt schönes Malerit-Grün die besondere Atmosphäre dieser Ausstellung noch verstärkt. Ein wenig auch erscheinen mir die Reagenzgläser, von denen ich seit dem Chemie-Unterricht (vor ewiger Zeit?) keines mehr selbst in der Hand hatte, auch als Symbol: Hier verbinden sich Bekanntes und Unbekanntes.

Hier wird deutlich, wie die Ausstellungskuratorin Steimel arbeitet, um die Menschen für die Kunst zu interessieren: Sie veranschaulicht Verbindungen: von der alten, hier wieder erscheinenden historischen Böblinger Apotheke (Regionaler Bezug) über die ganz alltäglichen und legalen Alltagsdrogen (Alkohol bis Zigarette), die wir alle kennen, hin zu den “modernen”, uns meist unbekannten und oft hochgefährlichen Designerdrogen.

Ein Büchertisch, der inzwischen oft bereichert wird mit Büchern, die Besucher mitbringen, etwa Christiane “F’s “Wir Kinder vom Bahnhof Zoo”, kennen viele aus ihrer Jugend … So integriert Steimel auch die Literatur in die Ausstellung: alle Wege führen, so sehen wir hier, aus Sicht der Ausstellungsmacherin, eben zur Bildenden Kunst. Kunst, die auf diese Weise interessant wird für jeden, und neue Sichtweisen und Perspektiven zu liefern vermag – vermittelt über das weitgefasste Thema “Schall und Rau(S)ch”.

Die Wirkung von Drogen wird hier allgemeinverständlich und auch wissenschaftlich erklärt – auf Texttafeln in der Ausstellung, aber eben auch auf Bildern – etwa den Malereien der Künstlerin Ellen Rein, die sich in den hier gezeigten Impressionen an ihren früheren Drogenkonsum erinnert. Und Corinna Steimel geht weiter auf diesem Weg und zelebriert erneut anschaulich Verbindungen zwischen Kunst und Bildung (das Maleritgrün erinnerst an seinerzeitige Schultafeln, an die wir noch mit Kreide geschrieben haben) und (Chemie): nicht weit weg vom Apothekenschrank finden wir einen großen Labortisch mit vielen Reagenzgläsern, umrahmt von den “chemischen Rezepten an den Wänden drumherum. Thema ist hier auch die Herstellung von Drogen, die ja in Labors (und teilweise in Apotheken) stattfand und stattfindet.

Kunst erscheint vielen von uns, wenn wir “von Haus aus” noch keine Verbindung haben zu dieser besonderen (oder zumindest besonders erscheinenden) eigenen Welt. Corinna Steimel zeigt uns auf vielfältige Weise Verbindungen unserer gewohnten Lebenswelten zur Kunst, die wir jetzt, dank solcher Kunstvermittlung als einen integralen Teil unserer Welt erleben. So nun in der Kunst angekommen, finden wir dann unsere eigenen weiteren Schritte und Wege.
Vom ganz normalen Konsum legaler Drogen und gelegentlichen Apothekenbesuche ist es nicht weit bis zum Labor.

Wie geht es weiter bei den Kunst-Ausstellungen in der Böblinger Zehntscheuer?

Nachdem wir anfangs erfuhren, dass Steimels Ausstellungen bisher von Mal zu Mal erfolgreicher wurde, stelle ich die naheliegenden Frage an die Kuratorin: “Was kommt als nächstes?” Corinna Steimel will schon beginnen, mit begeisterter Stimme zu berichten, als sie sich selbst stoppt: Noch sei nichts entschieden, noch nichts ist bis jetzt festgelegt”: über ihre geplanten Projekte will sie noch nichts verraten. Eben waren wir angelangt bei Apotheken, den Labors, in denen deren Produkte hergestellt werden, und er Chemie, die dies ermöglicht. Ein weiterer Schritt zurück (oder eine Ebene höher) wäre, so könnten wir spekulieren, ein Vordringen in Richtung der Wissenschaft?

Wie immer in unseren Künstlerporträt arbeiten wir ja streng intuitiv und spekulieren also weiter:
Mit “Schall und Rau(s)ch bezieht sich ja die aktuelle Ausstellung auch direkt auf die Literatur; namentlich auf Goethe, aus dessen Faust I ein Zitat (auch an einer Ausstellungswände zu lesen, ja den direkten Bezug herstellt:

„Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,“
Faust Erster Teil (Marthens Garten) von Johann Wolfgang von Goethe. (Zeile 3457).
Wir erinnern uns: bald danach folgt Gretchens Frage “Wie hälts Du’s mit der Religion?” Faust hatte sich ja auf seiner Sinnsuche längst von der Religion ab- und der Wissenschaft zugewandt. Vielleicht also geht unsere Böblinger Kuratorin ebenfalls weiter von Kunst und Literatur in Richtung der Welt der Wissenschaft? Sie wäre damit auf dem Pfad, auf dem der im März 2023 gestorbene ZKM-Chef Peter Weibel mit seiner Abschiedsausstellung schon einen bedeutenden Meilenstein erreicht hatte; Weibels zentrales Thema war ja das (Wieder-) Zusammenführen von Kunst und Wissenschaft

Vielleicht aber hat Corinna Steimel auch ganz andere, noch überraschendere Pläne?
Wir wissen es nicht, aber spannend wird es ganz sicher. Kunst ermöglicht uns immer wieder neue Perspektiven: Sie kennen das Zitat von Paul Klee: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, Kunst macht sichtbar“. In diesem Sinne ist für mich Kunstvermittlung auch eine Kunst: sie eröffnet neue Wege und immer wieder überraschende Perspektiven.

Mit Steimels – nennen wir es: Lebensweltlicher Einbindung der Kunst finden auch Neueinsteiger den Weg zur zeitgenössischen Kunst. Hervorheben möchte ich zuletzt noch ein Werk der Ausstellung von Jan-Hendrik Pelz. Die Arbeit dieses Konzeptkünstlers, der u.a. bei Christian Jankowski studiert hat, zeichnet sich aus durch die beeindruckende Vielfalt seines künstlerischen Schaffens. Jetzt bei “Schall und Rau(S)ch” in Böblingen zeigt er die Installation “Nobilé”. Ähnlich dem Ausstellungstitel ein Wortspiel. Inhalt der Kugeln ist ein Stoff, eine duftende Droge, die – würde sie ihre ätherischen Stoffe im Ausstellungsraum verteilen, die kontemplative Ruhe, die von den sich sehr langsam bewegenden Kugeln ohnehin schon hervorgerufen wird, noch verstärken.

Kontemplation, Ruhe, Reflektion und ja: auch Schönheit – alles mögliche Wege zur Kunst.

Bild links: eine der “LSD-Impressionen” von Ellen Rein

Corinna Steimel verbindet als Kuratorin Kunst, Bildung und Wissenschaft auf ihre eigene Weise. Und tatsächlich: sie hat und braucht kein Geheimrezept, sondern formuliert zusammenfassend gleich selbst das Konzept ihrer Arbeit:

“Kunst ist meine Droge”.
Jürgen Linde im Februar 2024