Hinkelstein 48 | 20.07.2025 | Die Traurigkeit der Seele – zur Kulturkrise der Zwanziger Jahre

Bild oben: Tanja Pohl: „Das Feld“ / Projekt zum Landesstipendium Thüringen 2024; © Tanja Pohl
Ausstellung | Tanja Pohl und Timo Behn | bis 17.08.2025 | Stipvisite – Ausstellung zum Landesstipendium 2024

Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg:
Jeden Sonntag frisch auf den Screen

Unser heutiger Titel könnte auf den ersten Blick irritierend sein. Aus der Sicht zukünftiger Generationen aber leben wir ja heute mitten in den Zwanziger Jahren. Einer Epoche, die geprägt ist von einer umfassenden Kulturkrise, in welcher mir aus heutiger Sicht eine Neubestimmung unseres Menschenbildes das zentrale Thema zu sein scheint.

Wieder versuchen wir zuerst, anknüpfend an den letzten Hinkelstein Nr. 47 (Erinnerung an die Zukunft II), den Stand unserer bisherigen Überlegungen zusammenzufassen, indem wir einige lose Enden aufgreifen.
Dies ist oftmals schwierig und führt manchmal dazu, dass wir (dass ich) fast den Überblick verliere(n).

Zuletzt landeten wir wieder bei unserem Thema „Transzendenz“, wo wir auch wieder ankommen wollen – ergänzt jedoch um eine neue Perspektive.

Seele, ein Begriff den ich nicht exakt definieren kann, genauso wenig wie die Kunst, ebendies macht unsere Hinkelstein-Thematik oft schwierig, aber hoffentlich auch interessant.
Beim Stichwort „Seele“ denke ich zuerst an Musik: Soul, eine frühere Musikrichtung, die man in meiner Jugend noch live hatte erleben können, gilt heute als so derart grufti bis staubi, dass man sie öffentlich besser gar nicht erwähnt: Es ist einfach zu peinlich ist und das könnte sogar gefährlich sein: zufällig anwesende moderne Menschen aus unserer aktuellen Pop-Kultur könnten beim Fremdschämen im Boden versinken – und das wollen wir ja nicht.
[ aber Hauptsache egal: Hier ein Soul-Beispiel: The Commodores – „Night Shift“ (1985) – MDA Telethon]

Den Hinkelstein 47 hatte ich beendet mit (m)einer dreisten Behauptung: Digitale Transzendenz ist nicht denkbar.
Vor etwa ewiger Zeit schon war ich auf diesen Gedanken gestoßen – als Quintessenz meines Künstlerporträts über die Bildhauerin Michaela A. Fischer: The Day after tomorrow – über Michaela A. Fischer.
Grundgedanke ist hier, dass die Kunst uns die Körperlichkeit des Menschen und auch die heute ja irgendwie weitgehend in Vergessenheit geratene Seele zurückbringen wird – nach der Kulturkrise, in der wir uns befinden. Hier in der Hinkelstein-Reihe haben wir die Seele, auch wenn wir diesen Begriff nicht eindeutig definieren können, dennoch nie aus den Augen verloren.

Auch dies ist ja hinkelsteintypisch: wir behandeln die Themen der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft einerseits, Kunst, und Seele und Transzendenz andererseits, praktisch gleichzeitig. Nicht ohne Grund: Wie eng unsere Alltagswirklichkeit (Lebenswelt) und unsere geistige Welt miteinander verbunden, dialektisch aufeinander bezogen sind, weiß am besten die Kunst: Hier komme ich zurück auf die Künstlerin Tanja Pohl, die sich sehr intensiv mit beiden Themen / Welten auseinandersetzt. (siehe dazu bitte das Bild ganz oben)

Insbesondere in ihren Landschaften befasst sich die Künstlerin eben mit deren Transformationen. Es geht hier um den Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft wie auch um den aktuellen Wandel am Ende der bisherigen Industriegesellschaft. Industriebrachen erleben wir hier als Landschaftsbilder.

Die postindustrielle Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen mit der Industrie 4.0, verändert die ganz realen Landschaften und eben auch unsere Seelenlandschaften. (siehe hierzu bitte das Bild ganz oben):
Tanja Pohl: „Das Feld“ / Projekt zum Landesstipendium Thüringen 2024; © Tanja Pohl
Ausstellung | Tanja Pohl und Timo Behn | bis 17.08.2025 | Stipvisite – Ausstellung zum Landesstipendium 2024
So schrieb Marc Peschke schon zu Tanja Pohls Ausstellung im April (08.04. – 28.05.2025) in Fulda:
Ihre Herangehensweise an die Landschaftsdarstellungen, die sich mit der Transformation von Natur- und Industrieräumen auseinandersetzen, beschreibt Tanja Pohl wie folgt:
»Die Industriebrache trägt beides in sich – Industrie und die Rückeroberung der Natur. In der Brache sehe ich einen gewissen Nullpunkt, ähnlich dem embryonalen Zustand.«
[ 08.04. – 28.05.2025: | Tanja Pohl: Der Mensch – Druckgrafik und Malerei ]

Tatsächlich befinden wir uns ja seit geraumer Zeit in einer Transformation, einer Wendezeit: dem Wandel von der früheren Industriegesellschaft (, die es so, wie wir diesen Begriff noch denken, hierzulande kaum mehr gibt), in eine postindustrielle Gesellschaft, von der wir noch immer nicht wissen, wie sie aussehen wird, wie sie aussehen könnte, wie wir(?) sie politisch und gesellschaftlich gestalten können.

Wir haben uns daran gewöhnt, solche Wendezeiten als Krisen zu bezeichnen und auch als solche wahrnehmen:
Am Ende der alten Industriegesellschaft beginnt eine neue Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, in der wir Menschen unsere Rolle in der Gesellschaft neu definieren, uns neu verorten müssen.

Die Kulturkrise, in wir uns befinden, besteht wesentlich aus zwei Entwicklungen, die auf komplexe Weise miteinander verbunden, aufeinander bezogen sind und gleichzeitig voran schreiten: Dennoch wollen wir versuchen, beide Phänomene zunächst voneinander getrennt zu behandeln, um sie zuerst jeweils einzeln zu verstehen und um sie dann anschließend hoffentlich auch in ihrem Zusammenwirken zu begreifen:

1.) wirtschaftlich/gesellschaftlich erleben wir , dass wir Menschen zunehmend überflüssig werden: in Wirtschaft und Produktion haben die Rationalisierungen (die früheren industriellen Revolutionen) einen Stand erreicht, auf welchem automatisierte Fabriken und digitalisierte Prozesse kaum mehr menschlicher Eingriffe bedürfen. Menschen werden (vorerst) noch gebraucht als Programmierer und dauerhaft fast nur noch als Konsumenten.

2.) auf der Ebene des Geistes erleben wir diesen radikalen Wandel als Sinn- und Identitätskrise. Nicht zufällig war letzte Woche im Hinkelstein Nr. 47 dann verstärkt Günther Anders in unseren Fokus geraten – mit seiner „Antiquiertheit des Menschen“ und deren Untertitel: Die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution verband er bereits diese beiden Aspekte. Zwei Aspekte einer einzigen nur ganzheitlich verständlichen Entwicklung.
Von unserem thematischen Ausgangs- und Schwerpunktthema Kunst herkommend; auch rückblickend auf die letzten Hinkelsteine, möchte ich dieses komplexe Arbeitspaket von der Seite der Kunst und der Transzendenz her angehen. Ein Projekt, das uns bestimmt die nächsten 2 bis 3 Hinkelsteine (also auch 2-3 Wochen) beschäftigen wird.

Klar ist, wir denken gemeinsam nach über die Zukunft: Das wesentlich philosophische Gesamtprogramm könnten wir so formulieren:

Die Zukunft eine Welt, in der wir Menschen überflüssig sind?.
Vielleicht nur aus Mangel an Phantasie, vielleicht aus purem / naiven Trotz, vielleicht aber auch aus einer (sagen wir:) ästhetischen Notwendigkeit heraus:
Das können wir uns nicht vorstellen

Es wird also spannend werden, und natürlich werden wir versuchen, modern und mediengerecht, wie wir sind, auch für gute Unterhaltung zu sorgen:
– die Beiträge werden weiterhin nicht ironiefrei sein; eher sarkstisch-frisch
– Musik-Videotipps werden wunschgerecht geliefert:
gleich heute, nach den Commodores oben, noch einen zweiten:
Auch wenn gemeinsam mit dem Soul zumindest die altmodischen Stilrichtungen des Jazz aus dem Blick der heutigen Medienwelt geraten sind: wir bestreiten, dass die Vergangenheit heute schon vorbei ist und fragen daher mit Miles Davis: So what? | Miles Davis: So what?

Und aus aktuellem Anlass hier noch eine Vorschau auf den nächsten Hinkelstein: Deutschlands weiterhin wichtigster Zeit-Diagnositker, der Philosoph Peter Sloterdijk, wird im Hinkelstein 49 gebührend zu Wort kommen:

„Den Angriff auf die Handschrift beenden“: Der Philosoph Peter Sloterdijk am Wochenende auf der Phil.Cologne, dem Kölner Philosophiefest; © Foto: dpa, FAZ

Meine spontane These: Der nunmehr antiquierte Mensch hat seinen evolutionären Scheitelpunkt überschritten und nun beginnt unsere Rückentwicklung; eine Phase der Degeneration.

Auch Peter Sloterdijk scheint dies ähnlich zu sehen: meine im Hinkelstein wiederholt beschriebene Nahverkehrserfahrung allseits (in Richtung Smartphone) gesenkter Häupter erweitert er zu einer plausiblen These – er spricht von der Reptiliisierung des Menschen!

Ein Indiz dafür ist das bestimmt bald zunehmend auftretende “Dropp-Head (=Fallkopf-) Syndrom“: Dieses bewirkt, „dass man den Kopf hängen lässt, immer vor sich nach unten schaut wie ein Reptil.
(Zitat: Christian Geyer in der FAZ vom 30.06.25; S.11)

Es klingt ein wenig vielleicht nach einem Hilferuf, doch ich betrachte es schlicht als Zustandsbeschreibung, wenn ich diesen Hinkelstein Nr. 48 so nenne:
Die Traurigkeit der Seele — zur Kulturkrise der Zwanziger Jahre

Für die, die mir jetzt, was verständlich wäre, eine beginnende oder gar fortgeschrittene Altersdeppression diagnostizieren, zitiere ich eines meiner älteren Gedichte:

Mach es Dir endlich leichter, sagst Du Dir, alter Mann.
Lass den Dingen ihren Lauf.

Wieder einmal scheiterst Du,
Die Hoffnung gibt Dich auf.

Hoffnungsschimmer entdecken wir immer wieder in der Kunst, auch und gerade, wenn sie unsere Welt sehr kritisch, und wie im Gedicht eben, auch dialektisch reflektiert. Wenn Sie also am Wochenende Kunst schauen, werden Sie dies sehen und nicht zuletzt stärkt jeder Museumsbesuch auch die Nackenmuskulatur!

Hierzu deshalb wie gewohnt unsere

guten Nachrichten aus der Kunst am Sonntag, dem 20.07.2025:

Neu am 20. Juli 2025: | Städtische Galerie Fruchthalle Rastatt: Eröffnung: Heute, 20. Juli 2025; 15 Uhr:
20.07. – 02.11.2025: | Eröffnung: 20. Juli 2025; 15 Uhr: | „DZiKADiVA
20.07. – 02.11.2025: | Eröffnung: 20. Juli 2025; 15 Uhr: | Wasser auf Kiefer – oder – Die Zeit liegt quer

Neu am 20. Juli 2025: | Künstler | GYJHO | Impressionen der Ausstellung „50 Jahre Ölmalerei auf Leinwand“ in der „Galerie Altes Rathaus“ in Musberg: | dazu der Film: | Im Licht der Energie.
Neu am 20. Juli 2025: | Neu im kunstportal baden-württemberg: | Museum ART.PLUS Donaueschingen im kunstportal baden-württemberg
Neu am 20. Juli 2025: | Museum ART.PLUS Donaueschingen | 05.05.2024 – 27.09.2025 | Angela M. Flaig, Gerhard Langenfeld u.a. | Nature unlimited
Neu am 20. Juli 2025: Städtische Galerie KarlsruheZKM Karlsruhe u.a.: | 02.08.2025; 18 – 24 Uhr | KAMUNA 2025 – Wissen schafft Vielfalt! |
KAMUNA 2025: Programm SGK | ZKM- Das genaue Programm
Neu am 20. Juli 2025: | Neues Kunstmuseum Tübingen | 05.10.2025 – 01.02.2026: | James Rizzi – Ausstellung und Atelier-Eröffnung
Neu am 20. Juli 2025: | ZKM Karlsruhe | Do, 25.09.2025; 16 – 18 Uhr | Workshop: | Wikipedia-Schreibwerkstatt: Medienkünstler:innen sichtbar machen!
Neu am 20. Juli 2025: | Newsletter  Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 48 vom 20. Juli 2025: | Newsletter  Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | die Traurigkeit der Seele

Wir wünschen Ihnen einen wunderfeinen Sonntag, gut durchgegart, luft- und und hitzegetrocket, feuchtfröhlich trotz alldem, unbedingt aber gluten- und laktosefrei und vor allem mit Hitzefrei!

Jürgen Linde und Obelixa, Sonntag, 27.07.2025