Hinkelstein 45 | 29.06.2025 | Erinnerung an die Zukunft

Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg:
Jeden Sonntag früh frisch auf den Screen

wie gewohnt knüpfen wir an unseren letzten Hinkelstein an, weniger aber an das Thema Musik als vielmehr zunächst an die Künstlerpersönlichkeit Alfred Brendel, den wir ja charakterisiert hatten „als vielleicht längst aus der Zeit gefallenes Fossil bürgerlicher Hochkultur“. Der Faz-Autor Gerald Felber beschreibt in seinem Nachruf ja treffend und kritisch, wie unsere Kultur und Gesellschaft den Bach runtergehen.

intergalaktisch schön wohnen – nur für Superreiche?

Bild links:  Amelie Weyers, Hochschule Darmstadt, Fachbereich Architektur, 2024; © Künstlerin
(KunsthalleTübingen: (noch bis 19.10.2025)
SCHÖNER WOHNEN – Architekturvisionen von 1900 bis heute)

Auch diese Woche gibt mir wieder ein aktueller Anlass die Möglichkeit, ein Thema aufzugreifen, das ich (wie letzte Woche die Musik) schon länger im Hinterkopf hatte: Jeff Bezos‘ Hochzeit in Venedig und in Prunk und Protz und Glanz, Glamour und Gloria (mit Austern und sicher edelstem Champagner und 200 so ziemlich reichen Gästen) erscheint mir als Paradebeispiel dafür, wie sich unsere heutige Welt dem Verfall und der Dekadenz hingibt. Stilecht und imagegerecht reist der 61jährige Multimilliardär an im 500 Millionen Euro teuren – immerhin größten Segelschiff dieses Planeten – wohlgemerkt: dieses Planeten: Bezos, nebenher auch Besitzer des Raumfahrtunternehmens Blue Origin (ähnlich wie Kollege Elon Musk, der ja mit Space-X auch im Weltall ein zweites Zuhause gefunden hat) denkt ja sicher universal. – im engeren Sinne: Schon die Finanzjongleure der 80er Jahre fühlten sich ja gerne als Masters of the Universe (nicht of the Earth).

Diese Blase ist inzwischen geplatzt; die Luxusblase der Tech-Milliardäre befindet sich noch immer im Höhenflug.
Schnell reich geworden durch gute Ideen, Risikobereitschaft und sicher auch mit Mut, Fleiß und viel Talent erscheint dieser Gruppe der Neureichen ihre Macht als naturgegeben und wohlverdient. Als klassische Aufsteiger zeigen sie dabei manchmal eine gewisse (von Neid getriggerte) Wut gegen die alten Eliten, auch gegen das „alte Geld“. Donald Trump ist hier wohl das paradigmatische Beispiel (bei Max Weber: der Idealtypus); der Präsident zählt ja die faulen, akademischen Eliten (oder gar erst die woken Linksradikalen der Harvard-University!) zu den Schmarotzern und Nichtstuern, deren ganz Kaste wohl am besten per Kettensäge aus dem Establishment entfernt werden sollte, zumal sie ja auf Kosten der normalen Bevölkerung leben: Trump, eher kein Intellektueller, verbindet dieses Feindbild geschickt mit dem der einfachen Leute, die er auf diese Wiese begeistern kann und die ihn wählen, obwohl er sie ärmer macht.

Mit dem Blick von so weit oben erscheinen die da unten, die Loser und Low-Performer, als leicht steuerbare Masse. Diese antiquierten, nur terrestrisch denkenden Fossile, die sowieso nicht mithalten können, erscheinen den Übermächtigen als Kleingeister,
als Zurückgebliebene in einer offenbar anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit: Unserer Wirklichkeit, in der gerade alles zusammenzubrechen droht. Während sich Kriege ausbreiten, inzwischen auch bis Europa, leben die Superreichen in ihrer eigenen Welt, einer Luxusblase, in der sie sich und ihren Superreichtum oft auf ordinäre Weise zur Schau stellen. Pervers und dekadent im besten Sinne wird all dies eben durch den Kontrast zwischen den beiden Lebenswelten.

Die Sicherheitsvorkehrungen für Bezos‘ Hochzeit in Venedig dürften denen eines G7-Gipfels kaum nachstehen, denn die Reichen müssen ja geschützt werden: Noch leben ja alle auf demselben Planeten und zwischen den sehr verschiedenen Lebenswelten gibt es noch immer Verbindungen.
Ja, natürlich im Internet, wo die Übermächtigen mit ihren Untertanen „kommunizieren“: Als Besitzer der Daten der Untertanen wird erfolgreich versucht, diese zu steuern – als Konsumenten, für die Konsum (der einzige) Lebensinhalt ist, und auch als Mitläufer:
Als zynische Verhöhnung darf man es sehen, wenn das Leben der Neureichen hier sogar als Vorbild angepriesen wird: „Living like a Billionaire“ war ein Slogan von Temu, das als globales (Spot-)Billigkaufhaus online auch die ärmeren Menschen mit qualitativ minderwertigen Produkten beglückt, etwa Model-Kleidern, die in ihrem schlechten Geschmack dem der Neureichen ähneln.

Die extreme Kommerzialisierung des Internets, die wir im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erleben mußten, erscheint rückblickend als wichtiger Schritt einer Machtstrategie der Tech-Milliardäre. Für die Bevölkerung gibt es Brot & Spiele: im Zentrum der Medienwirklichkeit steht ganz klar der Konsum.
Über die Kommunikationskanäle der Social Media (besonders Musks X, aber auch facebook, Google etc) wird diese Weltsicht (etwa durch Influencer) bestärkt; auch wird hier, über die verschiedenen verschwörungstheoretischen Blasen, für die Youtube wichtig ist, die libertäre Ideologie verbreitet (Auch Du kannst reich werden!; kannst stark und frei sein!).
Weil es mir gerade einfällt und weil hier ja Musik-Tipp-Videos erwartet werden: mit Elon Musk und seinen Kollegen kommen Fehlbarben ins Spiel: Fehlfarben: Es geht voran!
Für die, die mangels Kaufkraft ganz hinten runterfallen (früher war das mal das Lumpenproletariat) bleiben dann immer noch die Traumwelten der Videospiele (Opium fürs Volk), wo immerhin unsere Avatare stark und erfolgreich sein dürfen:
Sorry: wieder einmal erinnere ich an Steven Spielbergs visionären Film „Ready, Player One“. In seinem wahrlich nicht besten Film zeichnet Spielberg das Bild einer zugrunde gehenden Digitalgesellschaft. Selbstverständlich sieht dies ganz anders aus als beim Niedergang es römischen Imperiums, als es weder Internet noch die damit verbundenen Blasen (=Paralleluniversen?) gab.

Auch wenn wir bezweifeln, dass Geschichte sich wiederholt, so gibt es doch eine ganze Reihe von Indizien und Parallelen zum Niedergang des spätrömischen Reiches, zumal wir hier in der Hinkelstein-Redaktion ohnehin seit Beginn dieses Projekts auf das römische Reich fokussiert sind und dankbar dafür, dass unser kleines gallisches Dorf uneinnehmbar bleiben wird – Hinkelsteine wird es immer geben. Das römische Imperium hingegen ist als politische Weltmacht verschwunden, doch die römische Hochkultur in Architektur und Kunst eben nicht.

In Spielbergs Dystopie scheint auch die bildungsbürgerliche Kultur, deren Verschwinden Alfred Brendel kritisch beobachtete, wie eingangs beschrieben, überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein.

Als bekennender Dystopiker gebe ich zu, dass all dies nicht wirklich optimistisch klingt – wo also bitte bleibt das Positive? Nun ja: mit (fast krankhaft) gesundem Zweckoptimismus und mit dem sehr amerikanischen Ronald Reagan hoffe ich, dass der Spätkapitalismus nicht mit einem großen Knall zugrunde gehen wird, sondern mit einem leisen Plopp. Auch der langjährige ZKM-Chef Peter Weibel hatte sowohl die Tendenzen der Digitalgesellschaft zum Totalitarismus gesehen als auch das selbstzerstörerische Potential der digitalen Welt insgesamt; er hat dazu einen Song geschrieben und (2013) selbst vertont: Peter Weibel & Hotel Morphelia: Wir sind Daten

Peter Weibel war zuhause in der digitalen und (s.o.:) in der analogen Welt
Bild oben: Peter Weibel in seinem Büro im ZKM;
© ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe
Foto: ARTIS Uli Deck, 2022

Ich denke, aus Weibels nicht ironiefreien Weltbetrachtung (auch dies typisch Weibel) einen optimistischen Zwischenklang herauszuhören: Ja: Wir sind Daten …stürzen ab. –
Bestimmt aber hat doch vorher irgendjemand ein Backup gemacht?
Die Kunst und damit (die Idee der) Freiheit und die Imagination überleben den Zusammenbruch politischer Machtsysteme. Danach wird am Day after Tomorrow unser kleines Dorf noch da sein und wir können, mit frisch erwachtem Erfindergeist uns und unsere Gesellschaft neu erfinden – als Kultur-Gesellschaft.

Schon heute also formuliert der Hinkelstein als solcher eine
Erinnerung an die Zukunft.
Jürgen Linde am 29.06.2025

Da wir aber im Hier und Jetzt leben, sollten wir auch die nahe Zukunft nicht vergessen. Konkrete Gestaltungsvorschläge dazu finden Sie wie immer in unseren heute besonders reichhaltigen

guten Nachrichten im kunstportal baden-württemberg am Sonntag, dem 29.06.2025:

Neu am 29. Juni 2025: | Kunstausflüge mit Sigrid Balke | Ein paar Tage in Basel …
1.| 18. – 22.06.2025: | Art Basel – Unlimited
2.| bis 07.12.2025 | Richard Long im Kloster Schönthal Too much chatter sprains the soul | Richard Long
3: | Nouveau Réalisme, kinetische Kunst und eine überraschend andere Ausstellung im Museum Tinguely | Eine Hommage zum 100. Geburtstag von Jean Tinguely

Neu am 29. Juni 2025: | Künstler | 19.07. – 28.09.2025 | Gabriele GoerkeSandro VadimBarbara JägerOMI RiestererHolger Fitterer u.a. | Regierungspräsidium Karlsruhe | Vernissage 18.07.2025; 18 Uhr | paarWEISE – sieben Künstlerpaare
Neu am 29. Juni 2025: | ZKM Karlsruhe | Fr, 25. – Sa, 26.07.2025 | Eröffnungswochenende: Assembling Grounds und Eva-Maria Lopez: Phyto-Travellers: | 26.07.2025 – 31.05.2026: | Assembling Grounds. Praktiken der Koexistenz | 26.07. – 26.10.2025 | Eva-Maria Lopez: Phyto-Travellers
Neu am 29. Juni 2025: | Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen | NeuFlyer zur Ausstellung | 25.07. – 26.10.2025: | »Linolschnitt heute – XIII Grafikpreis der Stadt Bietigheim-Bissingen«
Neu am 29. Juni 2025: | Newsletter  Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 45 vom 29. Juni 2025: | Erinnerung an die Zukunft

Wir wünschen Ihnen einen wunderbaren Sonntag mit – unerklärlicherweise trotz alldem irgenwie halt keine Ahnung – erträglichen Hitze, vor allem dank frischen Windes am und im Kopf.

Ihre Obelixa und das gesamte Redaktionsteam des Hinkelsteins