Hinkelstein 43 | 15.06.2025 | Us and Them – über moralisierende Missionare

Hinkelstein, der wöchentliche Newsletter des kunstportals baden-württemberg: Jeden Sonntag früh frisch auf den Screen

mit dem Titel und dem Resumee „wohnhaft“ kamen wir ja im letzten Hinkelstein 42 wieder einmal zurück zum Thema Gesellschaft; Gesellschaft und dystopische Zukunftsszenarien sind ja schon länger unser zentrales Thema im Hinkelstein. Ein Thema das hier manchmal auszuufern droht.
Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit zahlreicher ineinander verwobener Themenaspekte und Gedankenstränge in Politik und Gesellschaft einerseits und im Medium Internet andererseits führt zu einer „Neuen Unübersichtlichkeit“, die sicher daher rührt, das beide Themen nicht voneinander getrennt werden können.

Schon vor 40 Jahren, 1985, schrieb Jürgen Habermas in seinem Buch „Die neue Unübersichtlichkeit“ über die damalige Zeitstimmung: vom wachsenden Neokonservatismus in den USA und hier bishin zum „enger werdenden“ intellektuellen Klima in Deutschland thematisierte Habermas Fragen, die sich uns aktuell ganz ähnlich stellen.

Kürzlich, am 12.06.2025 .behandelte ein Artikel der FAZ vom 12.06. („Dürfen wir noch sagen, was wir wollen? von Ferdinand Kirchhof“) ebendiese Themen auf erhellende Weise: Sehr grob zusammengefasst geht der ehemalige Bundesverfassungsrichter davon aus, dass die Meinungs-, Presse-, Religions-, etc.- ) Freiheit hierzulande eigentlich „umfassend geschützt“ sei.

Fesselnd erläutert er dann , wie es möglich wurde, dass und wie dennoch inzwischen ein politisches Klima entstanden ist, in welchem die Meinungs- Redefreiheit ganz offenbar in Frage stehen: So sind „mehr als 40% der Deutschen der Ansicht, man könne bei uns nicht mehr frei reden; fast die Hälfte neigt zur Vorsicht, wenn sie etwas Unpopuläres sagen will“.

Den Zeitugsbeitrag finden Sie inhaltlich nahezu identisch und noch anschaulicher in einem Redebeitrag des Autors vom 04. April 2025 im Forum Wissenschaft, Wirtschaft und Politik:
Zum Zustand der Meinungsfreiheit in der deutschen Gesellschaft – Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof – YouTube
(fast 50 Minuten; dennoch empfehle ich ich, ihn komplett anzuschauen.

Die Zensur, die es ja hier eigentlich nicht gibt, scheint sich einzuschleichen. Wie ist dies möglich? Kirchhof beschreibt eine Veränderung der zwischenmenschlichen Gesprächskultur“. Erneut denken wir an Habermas: auch dessen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ ist thematisch wie inhaltlich verblüffend aktuell.

Bleiben wir aber bei Ferdinand Kirchhof, der das respektvolle Zuhören und das Abwägen von Argumenten des oder der jeweils Anderen, wie sie den demokratischen offenen Diskurs charakterisieren, als verschwindende Tugend sieht – stattdessen erläutert er die heute überhand nehmende „(Nicht-)Diskurskultur“ mit einem neu geschöpften Begriff: er bringt die Figur des „moralisierenden Missionars“ ins Spiel, der, statt sachliche Argumente auszutauschen und auch zuzuhören, nur seine eigene vorgefasste Meinung als die einzig richtige vertritt – gegensätzliche Auffassungen sind schlicht falsch.

Und tatsächlich kennen wir ja alle Beispiele hierzu; etwa das Gendern mit seinen teilweise absurden Auswüchsen oder die vielen Themen, über die wir früher fröhlich oder auch sehr engagiert gestritten haben (etwa pro- oder contra Atomkraft, oder Essen mit Fleisch oder nur noch vegetarisch oder unbedingt vegan), werden heute geführt als Glaubenskriege unter moralischen Aspekten: Fleisch essen ist unmoralisch, ist böse: „ich habe recht, und wenn Du anders denkst, gehörst du zu den Bösen „.

Der (leider 2021 gestorbene) Karlsruher Künstler Wolfgang Gießler hat sich schon vor gut 40 Jahren u.a. in seiner legendären Serie Kunstführer & Flugschwein über die “Stilrichtungen der Kunst im dritten Jahrtausend” im kunstportal-bw auf vielfältige ART mit der Kommunikationsproblematik befasst:
Links seine Studie zum Linearen Rationalismus, wobei hier Abschnitt 3 besonders aktuell erscheint

Jetzt endlich der Musik-Video-Block:

Die Aufteilung in Gut und Böse kennen wir seit unserer Kindheit, aus all den Märchen, die uns nicht vorgelesen wurden, aber auch aus unserer Welt der Erwachsenen; etwa Pink Floyd machten dies zum Thema:
(236) Pink Floyd – Us And Them (2023 Remaster) – YouTube

Insgesamt war es diesmal nicht ganz einfach, zu unserer Thematik die richtige Musik zu finden:
Passend erscheint mir jedenfalls auch mal wieder Led Zeppelins Communication Breakdown; besonders zeitgemäß – in Lautstärke und dem Bild dazu: Youtube-Videoversion von Iron Maiden: Communication Breakdown

Über den Breakdown hinaus erscheint ja auch denkbar, dass Kommunikation in Habermas‘ Sinne eines offenen Diskurses, der auf Verständigung abzielt, heute gar nicht mehr geht:Jeder lebt in seiner eigenen Blase – eingemauert: PInk Floyd (ja nochmal halt) hatten dazu ein geniales Konzeptalbum gemacht: The Wall; daraus ein Beispiel:
When I try to get through | On the telephone to you | There’ll be nobody home.

Bild rechts: Harald Kille: Nach dem Gebet; 2021
© Harald Kille, VG Bildkunst Bonn, 2021

Mehrfach schon haben wir hier hingewiesen auf Orwells Vision 1984. George Orwell wußte, wie auch heute Ferdinand Kirchhof, um die große Bedeutung der Sprache für die Gesellschaft. Totalitäre Herrschaft basiert, unter anderem, auf der Kontrolle der Sprache: bei Orwell sind andere Meinungen schlicht Sprachverbrechen, oder, noch radikaler gedacht: Gedankenverbrechen.

Bevor wir dann im nächsten Hinkelstein darüber nachdenken, wie das Medium Internet (das für Orwells Vision die antizipierte technische/logistische Voraussetzung ist) die oben beschriebene Entwicklung zu weniger (Meinungs- und sonstigen) Freiheit nicht nur begleitet und ermöglicht, sondern sogar, um mal wieder neudeutsch daher zu reden: massiv triggert, möchte ich abschließend das Resümee Kirchhofs zitieren:

Demokratie, Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft brauchen die Offenheit aller Stimmen und Argumente…Wir sollten moralisierenden Missionaren Einhalt gebieten„.

Jürgen Linde, 15.06.2025

Unsere guten Nachrichten aus der Kunst am Sonntag, dem 1508. Juni 2025 im kunstportal baden-württemberg:

Neu am 08. Juni 2025: | Künstler | 10.10. – 01.11.2025 | Min Bark, Mimi Kohler, Anja Luithle, Jan-Hendrik Pelz, Nina Joanna Bergold, Christian Jankowski, Wolfgang Neumann, Daniel Richter, Friederike Just u.a.: | Kunst im Schloss Untergröningen e.V.  | ECHOPraxia
Neu am 08. Juni 2025: | Städtische Galerie „Fähre“ Bad Saulgau | Sonderveranstaltungen am 14.05.2025: | Körper, Tanz und KI: Workshop, Tanzperformance und Künstlergespräch am 14. Juni 2025 in der „Fähre“
Neu am 08.06.2025: | KunsthalleTübingen | 07.06.- 19.10.2025 | Schöner wohnen – Architekturvisionen von 1900 bis heute
Öffentliche Feiertagsführungen an Pfingsten 2025 – Schöner wohnen
Neu am 08. Juni 2025: | Newsletter  Hinkelstein: | Sonntag früh frisch auf den Screen: | Hinkelstein 42 vom 08. Juni 2025: | schöner Wohnen oder oder Zukunft in wohn-Haft?